Onkel Wanja kommt
schmeckte ein wenig süßlich, aber eine heilende Wirkung konnte ich nicht feststellen. Andererseits fehlte mir auch nichts. Ich glaube, die meisten Patienten, die sich um die Quelle der Geflügelten Kirche scharten, hatten sich ihre Krankheiten nur eingebildet. Sie hätten ihre Leiden genauso gut mit Wasser aus der Leitung heilen können.
Auf jeden Fall war dieser Bach die spirituelle Quelle unseres Bezirks. Er war der Ersatz für Religion, Heimatkunde, Glaube, Liebe und Hoffnung. Und jede spirituelle Quelle will kontrolliert werden. So bekam auch der Bach hinter der Ruine einen eigenen Aufpasser, der sich wie aus dem Nichts aus dem klaren Wasser herauskristallisiert hatte: ein Mann unbestimmten Alters mit einem zerzausten Bart und ewig verlöschten Papirossi im Mundwinkel, ein ehemaliger Arbeiter der Hühnerfarm, der anscheinend nichts Besseres mehr zu tun hatte, als jeden Tag neben der Quelle zu sitzen, die Versteck spielenden Kinder aus der Ruine zu jagen, die Pärchen beim ersten Kuss zu überraschen und leere Flaschen sowie anderen Müll neben dem Lagerfeuerplatz in seiner schwarzen Stofftasche zu sammeln. Außerdem hinderte er die Omas daran, ihre Füße oder andere Körperteile in den Bach zu stecken. Er verkaufte leere Plastikgläser für fünf Kopeken das Stück an alle, die mit leeren Händen gekommen waren und nicht aus der Hand trinken wollten. Wir nannten diesen komischen Kauz den Priester der Geflügelten Kirche.
Mit der Perestroika begann schließlich eine neue Zeitrechnung. Überall in Moskau schossen Kirchen aus dem Boden wie Pilze im Wald nach einem leichten Herbstregen. Das Schwimmbad Moskau wurde zugeschüttet und an seiner Stelle die große Kirche wiederaufgebaut, diesmal noch größer und pompöser als die alte. In unserem Bezirk veränderte sich sogar die Landschaft. Die Hühnerfarm wurde, da nicht kapitalistisch genug, aber auch wegen ihres Gestanks, geschlossen. Anstelle des Geflügelten Dorfes sollte eine Neureichensiedlung entstehen, zumal die Gegend als ökologisch einwandfrei galt und es die Reichen auf der ganzen Welt außerdem vorziehen, sich auf Hügeln niederzulassen. Angeblich ist die Luft erheblich besser, wenn man zehn Meter näher am Himmel wohnt. Um den Umbau zu beschleunigen, rissen die Baufirmen die alten Häuser nicht nacheinander ab, sondern sprengten kurzerhand alle an einem einzigen Tag. So wurde das Geflügelte Dorf zumindest bei seinem Ende seinem Namen gerecht. Die Häuser flogen in die Luft und bescherten uns einen merkwürdigen Hagelregen aus kleinen dunkelgrauen Phenoplastkügelchen, die in großen Mengen vom Himmel fielen. Niemand wusste genau, woher das Zeug kam, aber wahrscheinlich waren es Teile des pulverisierten Hühnerdorfes.
Die ökologisch bewussten Neureichen ließen die Kirchenruine akkurat entsorgen, den Bach in ein Häuschen aus Panzerglas einhüllen und den Priester verjagen. Er gilt seitdem als verschollen, niemand hat ihn je wiedergesehen. Die neuen Bewohner sind alles gutgläubige Menschen, wie es heute in Russland Mode ist. Sie tun es ihrem Präsidenten und dem Premierminister nach und gehen an jedem religiösen Feiertag in die großen pompösen Kirchen der Hauptstadt, um dem Gottesdienst zu lauschen und sich erleuchten zu lassen. Sie atmen eine bessere Luft, joggen zwischen den Hügeln und haben angeblich so gut wie nie Magengeschwüre.
Meine Großmutter, die in einem Haus in der Nähe wohnte, mochte das heilende Wasser aus dem Bach hinter der Geflügelten Kirche sehr. Wie blöd, sagte sie, als sie mit 96 Jahren sterben musste. Sie hatte Revolution und Krieg überlebt, durfte nach dem Krieg mit zwei kleinen Kindern nicht in ihre Heimatstadt zurück, pendelte ein halbes Jahrhundert ohne festen Wohnsitz durch das Land, hatte zwei Dutzend verschiedene Arbeitsstellen und trug ein Dutzend Lebenspartner zu Grabe. Wie blöd, sagte sie, und wie schnell. In ihrem Nachlass entdeckte ich zum ersten Mal volkstümlich-christlich religiöse Literatur. Wir blätterten mit Freunden die alten Bücher in der Küche durch. Viele komische Bilder waren dabei. Besonders lächerlich fanden wir die Hölle und das Paradies. Die Hölle, in der die Sünder bei hohen Temperaturen kochten, erinnerte uns an die russische Sauna. Auch das Paradies erinnerte lustigerweise an eine Sauna, wo schon gewaschene Sünder in weiße Tücher gehüllt auf der Suche nach ihren Hosen herumirrten.
Unsere irdische Welt hat wesentlich mehr Schrecken zu bieten als die gemalte Hölle in dem
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