Onkel Wanja kommt
zumindest geht die Invalidenstraße in die Veteranenstraße über. Mein Onkel humpelte bereits leicht, ich hatte seine Ausdauer und seine Kräfte anscheinend doch überschätzt. Es war völlig leichtsinnig von mir, den alten Mann nach einer solch anstrengenden Reise zu Fuß durch die Invalidenstraße zu zerren. Ihm war unser nächtlicher Spaziergang eindeutig ein paar Kilometer zu lang. Mein Onkel ließ sich jedoch nichts anmerken, er quengelte nicht, fragte nicht, wie lange noch, wie spät und wie weit, stattdessen interessierte er sich für alles, was in seinen Augen nach Sehenswürdigkeit aussah. Im frühmorgendlichen Nebel roch es nach frischem Holz und Zement. Links und rechts von uns ragten die Pfeile der Baukräne in den Himmel, endlose Baustellen, wohin man blickte.
Um unsere Route abzukürzen, beschloss ich, gleich nach der Kirche links in die Brunnenstraße abzubiegen. Sie ging zwar ziemlich bergauf bis zur Bernauer, doch dort konnte ich meinem Onkel den historisch trächtigen Ort zeigen, wo früher die Mauer stand. Ab hier kannte ich eine noch bessere Abkürzung durch ein Loch im Zaun einer Baustelle. Wir wären dann selbst mit dem umständlichen Koffer zehn Minuten später zu Hause gewesen.
»Wir sind fast am Ziel«, beruhigte ich meinen Onkel. »Lass uns etwas schneller gehen, ich möchte dir unsere größte unsichtbare Sehenswürdigkeit, den Mauerpark, zeigen.« In Wirklichkeit wäre uns diese Sehenswürdigkeit natürlich nicht weggelaufen, auch wenn wir später gekommen wären. Eile war nur gefragt, weil das Leben auf Berliner Baustellen sehr früh beginnt. Ich wollte nicht, dass uns irgendwelche Arbeiter die angepeilte Abkürzung durch die Baustelle stahlen.
Mein Onkel war verblüfft über die großen Bauvorhaben. Die vielen Kräne erinnerten ihn an den Hafen, in dem er früher einmal gearbeitet hatte. Ob Deutschland gerade einen Bauboom erlebe, fragte er mich. Da musste ich lachen. Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal nach Berlin gekommen war, hatte ich schon überall die gleichen Baukräne und Baugruben gesehen. Die meisten Bewohner kleideten sich auch wie Bauarbeiter, viele hatten einen Hammer oder eine Kneifzange in der Tasche. Ganz Berlin war eine einzige Baustelle. Straßenbahngleise wurden ausgetauscht, alte Straßen asphaltiert, neue Straßen verlegt, Wasserleitungen und Kanalisation ausgetauscht, alte Häuser renoviert und neue hochgezogen. Nicht das Kreischen der Vögel, das Jaulen der Betonmischer war das spezielle Berliner Geräusch, das jeden diese Stadt mit geschlossenen Augen erkennen ließ. Und es fing schon um sechs Uhr morgens an zu lärmen. Macht nichts, dachte ich damals naiv, irgendwann, wenn sie fertig sind, ziehen die Kräne ab, dafür wird eine wunderschöne fertiggebaute Stadt da sein, die Vögel werden wieder zwitschern und anstelle der Betonmischer die Akustik der Stadt dominieren.
Inzwischen ist ein Vierteljahrhundert vergangen, und ich weiß, sie werden nie fertig sein. Mein Wunschdenken von damals wird für immer eine Illusion bleiben. Das Bauen ist des Deutschen Lebenssinn. Er ist niemals zufrieden mit dem, was da ist, und will es immer besser, solider, sicherer, eben alles richtiger machen, als es ohnehin schon ist, bis ihm selbst irgendwann der Kragen platzt und er alles Gebaute wieder kaputt macht. Doch bis dahin dauert es. Auch dort, wo die Straßenbahngleise noch wie neu aussehen, werden sie ausgetauscht. Straßen, denen nichts fehlt, werden noch besser gemacht, Häuser ebenfalls, und kaum sind die Arbeiter an einem Ende fertig, fangen sie schon am anderen Ende wieder an. Je mehr Zeit und Kraft ein Bauvorhaben in Anspruch nimmt, desto besser. Daher war der zuletzt größte und wichtigste Bau der Deutschen die Berliner Mauer, die sie zuerst in einem Anfall aus Übermut gebaut, ständig verbessert und renoviert und dann in einem Akt kollektiver Bauwut wieder abgerissen haben. Zwischendurch haben sie auch noch versucht, mit allen Mitteln die Mauer zu durchqueren, unter ihr einen Tunnel zu graben oder über sie hinwegzufliegen.
Nach dem Abriss, der wie eine große Revolution, ein Sieg des Volkes über eine feige Politik gefeiert wurde, bauten sie anstelle der Mauer ein Mauermuseum mit einem Mauercafé und einer ständig wechselnden Mauerausstellung, die noch immer kräftig ausgebaut wird und deswegen die ganze Gegend wie eine Baustelle aussehen lässt. Außerdem haben sie Millionen kleiner Mauerteile als Souvenirs produziert, um sie an Touristen zu verkaufen,
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