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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Kaminer
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erstreckten sich bisweilen über mehrere Generationen. Als Erstes wurde stets ein hoher Zaun gebaut, damit die Nachbarn nicht sehen konnten, wer sich wie und – besonders wichtig! – mit welchen Materialien seine Datsche errichtete. Man konnte in der Sowjetunion keine Baumaterialien im freien Handel erwerben, man konnte sie auch nicht erben oder geschenkt bekommen. Man konnte sie eigentlich nur klauen.
    Meine Eltern hatten zu wenig Geld, um ein Grundstück zu pachten, dafür legten sie ihre Ersparnisse mit denen einer befreundeten Familie zusammen und mieteten eine fertige Datsche für drei Jahre. Drei Sommer in Folge verbrachte ich auf dieser Datsche, die sich in der Nähe von Moskau gleich neben der berühmten Kosmonautensiedlung »Sternenstädtchen« befand. In diesem Städtchen durften nur Kosmonauten mit ihren Familien leben, sie hatten dort wegen ihrer heroischen Berufswahl verbesserte Lebensbedingungen. Das bedeutete: besser geplante Wohnungen und eine bessere Auswahl an Lebensmitteln in den Geschäften: französische Kosmetik, italienische Schuhe, finnische Zigaretten. In der Sowjetunion gab es eine Menge Kosmonauten, aber nur wenige von ihnen sind tatsächlich ein oder zwei Mal ins All geflogen. Die meisten haben unseren Planeten nie verlassen. Sie saßen in ihrem Sternstädtchen und fraßen. Natürlich hatten die Kosmonauten ihr Städtchen von allen Seiten mit einer hohen Mauer umgeben, um keinen Sozialneid beim Rest der Bevölkerung aufkommen zu lassen. Niemand sollte sehen, wie gut es ihnen ging.
    Mit den anderen Kindern aus den umliegenden Datschen-Siedlungen stürmten wir jeden zweiten Tag die Mauer ihres Städtchens. Es gab mehrere Möglichkeiten, dort einzudringen. Die einfachste Variante war, den Soldaten am Tor in ein Gespräch zu verwickeln und ihn dadurch abzulenken. In der Regel gingen zwei von uns zu dem Soldaten. Und während sie sich bei ihm erkundigten, welche Prüfungen man machen musste, um in eine Kosmonautenschule aufgenommen zu werden, schleusten sich die anderen hinter dem Rücken des Wachsoldaten ins Sternenstädtchen. Eine andere Variante, die gefährlichere, bestand darin, von einem Baum auf die Mauer und von der Mauer aufs Dach eines LKW s zu springen, der jedoch gute zwei Meter von der Mauer entfernt parkte. Das schafften nur die älteren Semester.
    Nach dem Abitur ging ich auf eine Theaterschule. Kaum hatte ich mich immatrikuliert, wurde ich auch schon mit der ganzen Studentenschaft in eine Kolchose aufs Land verschickt. Wir sollten dort bei der Kartoffelernte helfen. Tagsüber hockten wir auf dem Feld, abends kletterten wir über die Zäune in die Gärten der Kolchose und überfraßen uns an Pflaumen und später an Äpfeln.
    Meine ganze Kindheit und Jugend war ein ständiges über etwas Drüber- oder unten Drunterklettern, um durch die unzähligen Sicherheitsvorrichtungen meiner Heimat zu gelangen. Ich habe mir ganz viele Hosen dabei versaut.
    In meiner Militärzeit saß ich dann das nächste Mal fest. Im Zuge der allgemeinen Militarisierung des Landes war ich nach der Beendigung der Theaterschule bei der Roten Armee gelandet – in einer Abteilung der Raketenabwehr. Genaugenommen musste sich unsere streng geheime Einheit auf das Abschießen besonders tief fliegender Objekte konzentrieren. Nicht einmal eine Fliege durfte ohne unser Wissen an uns vorbei Richtung Hauptstadt ziehen. Um dieser Aufgabe gewachsen zu sein, hatten wir drei Raketen, ein Radargerät und eine Menge dazugehörige Kommunikationseinrichtungen, die den Luftraum um uns herum nach Geräuschen und fremden Radiosignalen absuchten. Unsere Armeeabteilung teilte sich in zwei Brigaden: diejenigen, die tagsüber Wache schoben, und die Nachtwächter. Fast alle, die eine humanistische Ausbildung besaßen, landeten bei der Nachtwache. Auch ich hatte das Glück und bekam einen Nachtposten auf der Radiorelaystation zugewiesen.
    Die Nacht war unser Loch im Zaun des Alltags. Die Nachtwächter hatten große Vorteile gegenüber ihren Kollegen aus der Tagschicht. Sie hatten wenig mit ihren Vorgesetzten zu tun, weil die gerne nachts schliefen. Die Nachtwächter selbst litten nie unter Schlafmangel, sie konnten, wenn sie wollten, Tag und Nacht schlafen – tagsüber ganz offiziell in der Kaserne, nachts während des Dienstes inoffiziell in ihren Sesseln am Arbeitsplatz. Man legte die Mütze auf den Tisch vor sich, drüber ein Tuch und dann den Kopf darauf, damit sich keine Schlaffalten bildeten. Rein theoretisch bestand die

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