Onkel Wanja kommt
Gorbatschow hätte ihn also korrigieren können, aber auch damals auf dem Roten Platz hat er nichts gesagt, nur höflich gegrinst. Jedes Mal, wenn Reagan redete, verfiel Gorbatschow wegen des Nuschelns in eine Art Sprachblockade. Na warte, dachte er wahrscheinlich in dem Moment, es wird auch mal auf meiner Straße die Sonne scheinen und das Akkordeon spielen.
Kurze Zeit später waren beide nicht mehr im Amt. Gorbatschow wurde durch Jelzin ersetzt, Reagan räumte seinen Platz für Bush senior, der zuerst durch Clinton, dann durch seinen eigenen Sohn, Bush junior, und noch später durch den Demokraten Obama ersetzt wurde. All diese Präsidenten hatten unterschiedliche Auffassungen bezüglich Abtreibungen, Steuersenkungen oder des weiteren Verlaufs des Einsatzes in Afghanistan. Aber in einem Punkt waren sich alle einig: Die Mauer muss her. Diesmal nicht in Deutschland, es ging um eine amerikanische Mauer, die zwischen Texas und Mexiko gebaut werden sollte. Selbst Obama, der demokratischste und in Europa der beliebteste von allen, hatte aktiv bei der Vorbereitung des neuen Immigrationsgesetzes mitgewirkt, das mehr Geld für Überwachungspersonal und CIA -Abteilungen vorsah, die sich mit illegalen Immigranten befassten. Diese Mauer soll Amerika uneinnehmbar für Eindringlinge machen. Für diejenigen, die schon in Amerika sind, oder diejenigen, die trotzdem durchkommen, ist allerdings ein Bleiberecht im Gesetz vorgesehen. Nachdem sie ihre Steuern bezahlt, eine Unbedenklichkeitsbescheinigung vorgelegt und die Sprachprüfung bestanden haben, dürfen sie bleiben.
Die American Wall, die teuerste Mauer der Welt (Kosten 1,2 Milliarden Dollar) soll 1125 Kilometer lang, 6 Meter hoch, 1,5 Meter breit und durchsichtig werden. Auf diese Weise kann man die Eindringlinge schon von weitem kommen sehen. Die Firma Boeing hat bereits viele Millionen Dollar in der Wüste versenkt, um eine Art virtuelle Vormauer zu errichten, in Gestalt spezieller Kameras, die nachts noch aus zehn Kilometern Entfernung eine Kakerlake beim Kacken identifizieren können. Auch auf der anderen Seite der Mauer wird nicht geschlafen. Die findigen Indianer des Stammes H u ˜ ah u ˜ v in der Nähe der amerikanischen Grenze bieten im Nationalpark EcoAlberto einen Überlebensworkshop an. Dort werden Touristengruppen durch stürmische Flüsse, über steinige Berge und quer durch die Wüste geschleppt, müssen sich dabei vor »feindlichen Jägern« verstecken und Betonanlagen überwinden. Diese Art Extremtourismus ist in Mexiko sehr beliebt. Dabei wird spielerisch der illegale Grenzübergang geübt, woraus auch niemand ein Geheimnis macht. Das Geschäft der Indianer boomt, und auch viele Amerikaner kaufen sich gerne eine Woche Extremtourismus an der amerikanischen Grenze, um ihrem Land einmal aus einer anderen Perspektive zu begegnen. Es wäre jetzt, rein theoretisch, genau der richtige Zeitpunkt für Gorbatschow, nach Mexiko zu reisen, auf eine hohe Kaktee zu klettern und von dort aus zu rufen: »Mister Reagan, öffnen Sie diese Tür, reißen Sie diese Mauer nieder!« Aber Reagan wird ihn nicht hören, er ist vor zwei Jahren an den Folgen seiner Alzheimer-Erkrankung gestorben. Und Gorbatschow fährt sowieso nicht nach Mexiko, dafür ist er viel zu sehr mit Werbung für Luis-Vuitton-Reisetaschen beschäftigt. So wird die American Wall Stück für Stück weiter gebaut mit dem Geld von Menschen, die alle Immigranten sind, abgesehen von ein paar findigen Indianern des Stammes H u ˜ ah u ˜ v.
Die Berliner Mauer wurde durch viele kleine Mauern und Zäune ersetzt, vor allem durch Baustellenabsperrungen, die das ganze Stadtbild dominieren. Immer wieder werden hier Freiflächen eingemauert oder eingezäunt. Mein Onkel und ich gingen an einem Absperrgitter entlang, aber ich konnte das versprochene Loch im Zaun nicht finden.
»Verdammt! Das ist ja wie bei uns. Entweder weiß man, wo das Loch ist, oder man weiß es nicht!«, sagte mein Onkel ironisch.
Ich konnte das nur bestätigen. Zeit meines Lebens war ich eingezäunt und konnte entweder irgendwo nicht hinein oder nicht heraus. Und ungefähr so lange bin ich damit beschäftigt, diese Grenzen zu überschreiten, über Zäune zu klettern, nach Türchen in Mauern und Löchern in Gittern zu suchen. Auf dem vermutlich ersten Foto, das mein Vater von mir machte, pinkle ich durch das Holzgitter meines Kinderbettes. In meiner Kindheit gab es keine Windeln, sondern strenge Eltern wickelten ihre Kinder von Kopf bis Fuß in
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