Onkel Wanja kommt
speziellen Tüchern ein. Die Eingewickelten lagen wie Zinnsoldaten in ihren Bettchen, und in großer Not pinkelten sie sich ein. Liberale Eltern wickelten ihre Kinder dagegen überhaupt nicht, sie durften überall hinpinkeln. Die Eingewickelten gingen später zu den einschlägigen Organen – Armee, KGB , Miliz, Bahn. Die Nichtgewickelten wurden Künstler oder Verbrecher. Das ist meine private These, sie ist nicht statistisch abgesichert. Meine Eltern waren auf jeden Fall liberal, und ich wurde nicht gewickelt. Mein Vater, der in seinem Fotografierwahn stundenlang, manchmal sogar Tage und Monate ausharren konnte auf der Suche nach dem »einmaligen Augenblick des Lebens«, schlief sogar mit seiner Kamera neben dem Kopfkissen. Keine Ahnung, was er nachts in unserer Wohnung Einmaliges zu knipsen hoffte. Außer mir, meiner Mutter und unserer Katze gab es dort nichts Einmaliges.
Einmal verunglückte mein Vater aufgrund seiner Besessenheit sogar ziemlich schwer. Er fiel bei dem Versuch, einen einmalig schönen Vogel auf dem Balkon des Nachbarn zu fotografieren, aus dem Küchenfenster im zweiten Stock. Nach seinem Fall bekam ich Alpträume. Ich mochte sein Hobby nicht, auch nicht die großen schwarzweißen Abzüge, mit denen er unsere Wohnung tapezierte. Selbst auf dem Foto, auf dem ich zwischen den Gitterstäben meines Kinderbettes durchpinkle, kann man erkennen, dass ich mit dem Strahl auf seinen Fotoapparat zielte. In einem anderen Land wäre mein Vater bestimmt Paparazzo geworden. Aber in der planwirtschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion waren Paparazzi nicht vorgesehen, und so wurde mein Vater Ingenieur.
Vom ersten Tag an nagte ich an den Holzstäben des Gitters an meinem Kinderbettchen. Ich fing damit an, noch bevor mir die ersten Milchzähne kamen, so erzählte es jedenfalls meine Mutter, und ich war auch früher als die meisten Kinder damit fertig. Eines Nachts gelang mir der Ausbruch: Ich riss zwei Stäbe erfolgreich heraus, fiel dann aus dem Bett und kroch in der dunklen Wohnung herum. Mein Vater verstärkte das Bettgitter daraufhin mit Metalldraht. Dagegen kam ich nicht an. Die Angewohnheit, gegen Gitterzäune zu pinkeln, habe ich jedoch bis zum heutigen Tag beibehalten. Es ist ein Reflex. Immer wenn ich irgendwo einen Gitterzaun sehe, muss ich dringend. Je höher der Zaun, desto stärker der Drang.
Der Kindergarten unseres Moskauer Bezirks befand sich zwischen einer sogenannten »Idiotenschule« – einer Anstalt für geistig zurückgebliebene Jugendliche – und einem Krankenhaus des Verteidigungsministeriums. Die Idiotenschule hatte eine drei Meter hohe Mauer mit einer Alarmanlage, die zwanzig Mal am Tag losging, ohne dass jemand über die Mauer geklettert wäre. Die Insassen dieser Anstalt waren dafür schlicht nicht idiotisch genug. Wenn sie raus an die frische Luft wollten, gingen sie ans Tor, denn das Tor zu ihrer Schule war offen. Sie konnten völlig frei hinein- und herausspazieren, wann immer sie wollten. Jeden Tag standen sie dort an ihrem Tor, machten die Fußgänger mit idiotischen Witzen an, baten aufdringlich um Zigaretten, aber trauten sich nicht, sich mehr als fünf Meter vom Schulgrundstück zu entfernen. Es waren, wie gesagt, Idioten.
Das Krankenhaus des Verteidigungsministeriums hatte natürlich auch einen Zaun, dazu ein Tor mit einem Schlagbaum, der von einem Soldaten bewacht wurde. Hinter dem Schlagbaum konnte man ein zweites eisernes Tor sehen, das ständig verschlossen war. Trotz dieser Sicherheitsvorkehrungen liefen die Patienten des Krankenhauses auf den Straßen unseres Bezirks frei herum. Man erkannte sie am aufrechten Gang, dem geraden Rücken und ihrer besonders gesunden Gesichtsfarbe – die meisten Patienten des Krankenhauses waren Armeeoffiziere. Selbst ohne Uniform, in gestreiften Pyjamas und Pantoffeln, bewegten sie sich anders als Zivilisten. Zum Biertrinken und Rauchen gingen die Offiziere auf die Abenteuerveranda unseres Kindergartens, natürlich nur dann, wenn dort keine Kinder spielten – spätabends oder nachts. Unser Kindergarten und die dazugehörige Abenteuerveranda waren ebenfalls mit einem hohen Metallgitter umgeben. Doch wie in jedem sowjetischen Zaun gab es auch in unserem ein großes Loch.
Ich war nie dabei, wenn sich die Offiziere auf unserer Abenteuerveranda versammelten, aber ich glaube, sie haben dort nachts Partys gefeiert, denn wir fanden morgens oft jede Menge leere Flaschen und Kippen in unserem Sandkasten. Wir sammelten die Flaschen und vergruben
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