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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Kaminer
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sie im Sand. Dieses Spiel hieß »Finde den Schatz«. Der eine musste die Flasche vergraben, der andere musste sie finden und, als neuer Besitzer des Schatzes, diesen sofort wieder vergraben. Es war ein gefährliches Spiel, und unsere Erzieherinnen waren auf der Hut. Wenn sie eine Flasche sahen, wurde sie sofort einkassiert. Wahrscheinlich brachten sie unsere Flaschen in den Lebensmittelladen, um das Pfand zu kassieren. Die Offiziere aus dem Krankenhaus sorgten jedoch fleißig für Nachschub.
    Mir war lange Zeit nicht bewusst, dass ich in einem von der übrigen Welt abgeschotteten, von allen Seiten eingezäunten Land lebte. Die Sowjetunion war sehr groß, und in meiner Phantasie sah die Welt wie folgt aus: In der Mitte war die Sowjetunion, bis an den Horizont, so weit das Auge sehen konnte. Dann kam lange nichts, und ganz weit weg von uns begann schließlich der kümmerliche Rest der Welt.
    Mit vierzehn bin ich zum ersten Mal an die Grenze der Sowjetunion gestoßen. Sie war viel näher, als ich erwartet hatte, in Odessa am Strand, fünfhundert Meter vom Haus meines Onkels entfernt. Meine Eltern hatten mich in jenem Jahr zum ersten Mal allein nach Odessa geschickt, sie wollten ein bisschen Ruhe und die kleine Wohnung einmal nur für sich haben. Ich hielt mich ebenfalls für erwachsen genug und hatte außerdem in Odessa außer meinem Onkel auch ein paar Freunde und eine Freundin namens Ella. Deren Eltern hatten einen Ausreiseantrag bewilligt bekommen und bereiteten ihre Auswanderung vor. Das war nichts Außergewöhnliches, damals saß halb Odessa auf gepackten Koffern. Ella ging tagsüber an den Strand, lag in der Sonne und blätterte in einem englischen Lehrbuch, dem wichtigsten Buch für ihr neues Leben. Eigentlich hatte sie keine große Lust auszureisen, ihr gefiel es in Odessa ganz gut, aber ihre Eltern konnten dem Sozialismus nichts abgewinnen. Beide waren Ärzte, und als solche, so waren sie überzeugt, würden sie im Westen ein weitaus besseres Leben haben als in der Sowjetunion. Ella hatte bereits Heimweh, obwohl sie noch gar nicht ausgereist war.
    Einmal gingen Ella und ich nachts an den Strand und gerieten in eine Grenzkontrolle. Soldaten mit Maschinengewehren vor dem Bauch und Hunden an der Leine durchkämmten den Strand auf der Suche nach Überläufern, die sich möglicherweise im Sand versteckt hatten. Der Strand war nachts nicht beleuchtet, die Wellen rauschten laut an Land, und man konnte kaum etwas sehen oder hören. Die Soldaten kamen uns wie Geister vor und haben mich mit ihren Taschenlampen ziemlich erschreckt, obwohl Ella und ich unentdeckt hinter einer Reihe von Umkleidekabinen saßen.
    »Wusstest du denn nicht, dass wir an der Grenze leben?«, lachte mich Ella aus.
    »Was für eine Grenze? Hier ist doch nichts außer Meer und Strand!«, meinte ich.
    »Aber am anderen Ufer ist die Türkei. Jedes Jahr sterben Menschen bei dem Versuch rüberzuschwimmen. Es haben bis jetzt nur sehr wenige geschafft«, erzählte mir Ella.
    Ich versuchte mir vorzustellen, wie mutig man sein musste, um sich auf ein solches mörderisches Abenteuer einzulassen – über das ganze Schwarze Meer zu schwimmen. Diese Superschwimmer betrachteten das Meer als ein Loch im Zaun, ein zwar großes, aber umso gefährlicheres Loch.
    Eine Grenzstreife hat uns in dieser Nacht hinter den Umkleidekabinen dann doch noch entdeckt. Es war allerdings eine ungewöhnliche Grenzstreife. In der Regel waren die Soldaten zu zweit und hatten einen großen Hund dabei, einen Rottweiler oder einen Schäferhund. Die Streife, die uns entdeckte, bestand nur aus einem Mann, und statt eines Rottweilers hatte er ein kleines Hündchen, einen Bologneser, an der Leine. Ein Grenzsoldat mit einem Bologneser, den er im Sand hinter sich her schleifte – es sah unglaublich lächerlich aus.
    »Er hat bestimmt seinen großen Hund versoffen und mit dem Rest des Geldes den kleinen gekauft«, vermutete ich. Meine Freundin musste laut lachen. Sofort fing der Bologneser an zu bellen, rannte in unsere Richtung, und der Soldat lief ihm hinterher. Wir hatten keine Papiere dabei, und es hätte für uns schlimm ausgehen können. Aber der Soldat war halbwegs freundlich, er schickte uns bloß nach Hause.
    Ein wichtiges Zeichen des Wohlstands in unserem Land war die Möglichkeit, ein Grundstück vom Staat zu pachten, um darauf eine Datsche – ein eigenes Häuschen – zu bauen. In der Regel zogen sich die Bauarbeiten bei einem solchen Familienprojekt enorm in die Länge und

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