Onkel Wolfram - Erinnerungen
aufgebrauchte Nadel mit nach Hause. Ich wusste, dass meine Mutter Marie Curie außerordentlich verehrte - sie war ihr einmal begegnet und erzählte mir oft, noch als ich ganz klein war, wie die Curies das Radium entdeckt und mit welchen Schwierigkeiten sie dabei zu kämpfen gehabt hatten, weil sie viele, viele Tonnen Mineralerz bearbeiten mussten, um eine winzige Menge der Substanz zu gewinnen.
Eve Curies Biographie ihrer Mutter - die meine Mutter mir im Alter von zehn schenkte - war das erste Porträt einer Wissenschaftlerin (oder eines Wissenschaftlers), das ich las, und es beeindruckte mich tief. [61] Es war kein trockener Bericht über die Leistungen eines Forscherlebens, sondern voller beschwörender, einprägsamer Bilder - Marie Curie, die ihre Hände in Säcken voller Pechblendenrückstände vergrub, noch immer mit Kiefernnadeln vom Bergwerk in Joachimsthal vermischt; die Säuredämpfe einatmete, während sie zwischen riesigen rauchenden Bottichen und Tiegeln stand und mit einer Eisenstange darin rührte, die fast so lang war wie sie selber; die die gewaltige teerige Masse in farblose Lösungen verwandelte, welche immer radioaktiver wurden; die bei dem Versuch, diese Lösungen immer weiter zu konzentrieren, damit rechnen musste, dass in ihrem zugigen Schuppen Staub und Sand in die Behälter fielen und die endlose Arbeit zunichte machten. (Diese Bilder wurden durch den Film Madame Curie verstärkt, den ich bald nach der Lektüre des Buches gesehen hatte.)
Nahm der Rest der wissenschaftlichen Gemeinschaft die Nachricht von Becquerels Strahlen nicht zur Kenntnis, fühlten sich die Curies wie elektrisiert: Hier war ein Phänomen ohne Beispiel und Parallele, die Offenbarung einer neuen, rätselhaften Energiequelle, und trotzdem schien es niemanden zu interessieren. Sie fragten sich sogleich, ob es neben Uran noch andere Stoffe gebe, die ähnliche Strahlen emittierten, und begannen eine systematische Untersuchung aller Stoffe, deren sie habhaft werden konnten (das heißt, sie beschränkten sich nicht wie Becquerel auf fluoreszierende Substanzen). Unter anderem testeten sie Proben aller siebzig bekannten Elemente in der einen oder anderen Form. Sie fanden nur noch eine weitere Substanz, die neben dem Uran Becquerels Strahlen emittierte, auch ein Element mit sehr hohem Atomgewicht - Thorium. Bei einer Vielzahl von reinen Uran- und Thoriumsalzen stellten sie fest, dass die Stärke der Radioaktivität offenbar lediglich mit der Menge des vorhandenen Urans oder Thoriums zusammenzuhängen schien. Ein Gramm metallisches Uran oder Thorium war also radioaktiver als ein Gramm irgendeiner ihrer Verbindungen.
Doch als sie ihre Untersuchung auf einige der üblichen Mineralien ausdehnten, die Uran und Thorium enthielten, bemerkten sie eine merkwürdige Anomalie: Manche waren aktiver als das Element selbst. Pechblende konnte beispielsweise bis zu viermal so radioaktiv sein wie reines Uran. Bedeutete dies möglicherweise, so fragten sie sich in einer genialen Eingebung, dass dort ein noch unbekanntes Element in kleinen Mengen enthalten war, ein weit radioaktiveres als das Uran selbst?
1897 setzten die Curies zu einer eingehenden Analyse der Pechblende an, wobei sie die vielen darin enthaltenen Elemente in Analysegruppen trennten: Salze der Alkalimetalle, der Erdalkalimetalle, der seltenen Erden - Gruppen, die im Prinzip denen des Periodensystems glichen. Sie wollten sehen, ob das unbekannte radioaktive Element eine chemische Affinität zu irgendeinem von ihnen hatte. Bald stellte sich heraus, dass sich ein Großteil der Radioaktivität durch Ausfallen mit Wismut konzentrieren ließ.
Sie setzten die Konzentration ihres Pechblendenrückstands fort, bis sie im Juli 1898 einen Wismutextrakt herzustellen vermochten, der vierhundertmal radioaktiver war als das Uran selbst. Da sie wussten, dass die Spektroskopie viele tausend Mal genauer sein konnte als die traditionelle chemische Analyse, wandten sie sich an den Spektroskopiker Eugene Demarçay, einen Spezialisten für seltene Erden, um zu sehen, ob er eine spektroskopische Bestätigung ihres neuen Elementes finden könne. Enttäuschenderweise zeigte sich zu diesem Zeitpunkt noch keine neue Spektralsignatur, trotzdem schrieben die Curies:
Wir sind der Meinung, dass die Substanz, die wir aus der Pechblende gewonnen haben, ein noch nicht beschriebenes Metall enthält, das durch seine analytischen Eigenschaften dem Wismut verwandt ist. Wenn das Vorhandensein dieses neuen Metalls sich
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