Onkel Wolfram - Erinnerungen
der großen Grippeepidemie unterstützt hatte, war kurz nach dem Ersten Weltkrieg mit der Radiologie vertraut geworden. Im Laufe der Zeit habe er, wie mein Vater mir erzählte, geradezu unheimliche Fähigkeiten in der Röntgendiagnose entwickelt. Fast unbewusst erfasse er die geringsten Hinweise auf eine krankhafte Veränderung.
In seiner Praxis, die ich ein paar Mal aufsuchte, zeigte mir Onkel Yitzchak einige seiner Geräte und ihre Verwendung. Bei seinem Apparat war die Röntgenröhre nicht mehr sichtbar wie bei den frühen Geräten, sondern in einem vorspringenden schwarzen Metallgehäuse untergebracht - es sah gefährlich aus, wie der Kopf eines riesigen Raubvogels. Onkel Yitzchak nahm mich mit in die Dunkelkammer, wo ich zusehen durfte, wie er ein gerade aufgenommenes Röntgenbild entwickelte. Schwach und eigenartig schön sah ich in dem roten Licht fast durchscheinend die Umrisse eines Oberschenkelknochens auf dem großen Blattfilm. Onkel zeigte mir eine Mikrofraktur, die sich nur als winzige graue Linie erkennen ließ.
«Du hast schon die Durchleuchtungsgeräte in Schuhgeschäften gesehen», sagte Onkel Yitzchak, «die dir zeigen, wie sich deine Fußknochen bewegen. [58] Wir können auch spezielle Kontrastmittel verwenden, um einige der anderen Körpergewebe sichtbar zu machen - es ist wunderbar!»
Onkel Yitzchak fragte mich, ob ich es beobachten wolle. «Du erinnerst dich an Mr. Spiegelman, den Mechaniker? Dein Vater vermutet bei ihm ein Magengeschwür und hat ihn hergeschickt, um es überprüfen zu lassen. Er bekommt ‹Bariumbrei› zu essen.
Wir verwenden Bariumsulfat», fuhr Onkel fort, während er eine zähe weiße Paste anrührte, «weil Bariumionen schwer und für Röntgenstrahlen fast undurchsichtig sind.» Ich fand diese Bemerkung sehr interessant und fragte mich, ob man nicht stattdessen schwerere Ionen verwenden könnte. Was war mit einem Blei-, Quecksilber- oder Thalliumbrei? Sie hatten alle außerordentlich schwere Ionen, obwohl es natürlich tödliche Mahlzeiten gewesen wären. Lustig wäre sicherlich ein Gold- oder Platinbrei, aber viel zu teuer. «Wie wäre es mit einem Wolframbrei?», schlug ich vor. «Wolframatome sind schwerer als Barium, und Wolfram ist weder giftig noch teuer.»
Wir gingen ins Röntgenzimmer, und Onkel stellte mich Mr. Spiegelman vor - er kannte mich von unseren Hausbesuchen am Sonntagvormittag. «Das ist Dr. Sacks' Jüngster, Oliver - er möchte Wissenschaftler werden!» Onkel stellte Mr. Spiegelman zwischen das Röntgengerät und einen Fluoreszenzschirm und gab ihm den Bariumbrei zu essen. Mr. Spiegelman nahm einen Löffel der Paste, zog eine Grimasse und schluckte das Zeug hinunter, während wir den Schirm beobachteten. Das Barium wanderte den Schlund hinab und gelangte in die Speiseröhre. Ich konnte sehen, wie sie sich langsam aufblähte und krümmte, während sie den Bariumbissen in den Magen schob. Schwächer, als geisterhaften Hintergrund, konnte ich sehen, wie sich die Lunge mit jedem Atemzug weitete und zusammenzog. Am beunruhigendsten aber war eine Art pulsierender Beutel - das, sagte Onkel und zeigte darauf, sei das Herz.
Ich hatte mich schon manchmal gefragt, wie es wohl wäre, andere Sinne zu haben. Meine Mutter hatte mir erzählt, Fledermäuse konnten Ultraschall einsetzen, Insekten Ultraviolett sehen und Klapperschlangen Infrarot wahrnehmen. Doch jetzt, wo ich beobachtete, wie Mr. Spiegelmans Innereien dem «Röntgenauge» preisgegeben waren, war ich froh, keinen Röntgenblick zu haben und von der Natur nur einen kleinen Ausschnitt des Spektrums gezeigt zu bekommen.
Wie Onkel Dave, so bewies auch Onkel Yitzchak großes Interesse an den theoretischen Grundlagen seines Gegenstands und an dessen historischer Entwicklung. Wie Onkel Dave hatte er ein kleines «Museum», nur dass es alte Röntgen- und Kathodenstrahlröhren enthielt, beginnend mit den zerbrechlichen, dreizackigen Exemplaren, die in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts verwendet wurden. Die ersten Röhren, so Yitzchak, hatten keinen Schutz vor Störstrahlung geboten, denn damals sei man sich über die Strahlengefahren noch nicht recht im Klaren gewesen. Dabei hätten die Röntgenstrahlen eigentlich von Anfang an gezeigt, wie gefährlich sie seien: Wenige Monate nach ihrer Entdeckung seien die ersten Hautverbrennungen aufgetreten, und Lord Lister selbst, der Begründer der Antisepsis, habe bereits 1896 vor ihnen gewarnt - eine Warnung, die allerdings keine Beherzigung fand. [59]
Es
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