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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Erden entwickelt wurde, als man versuchte, Elemente zu trennen, die chemisch fast ununterscheidbar waren. Große Geduld musste dafür aufgebracht werden, denn unter Umständen waren Hunderte oder Tausende von Fraktionierungen erforderlich. Dieser mühsame und quälend langsame Prozess verursachte es nun, dass aus den Monaten Jahre wurden.
    Die Curies hatten gehofft, sie würden Radium um das Jahr 1900 isolieren, doch von dem Zeitpunkt an, wo sie seine wahrscheinliche Existenz bekannt gaben, bis zur Isolierung eines reinen Radiumsalzes, eines Dezigramms Radiumchlorid - weniger als ein zehnmillionstel Teil des Ausgangsstoffes - vergingen noch fast vier Jahre. Trotz technischer Schwierigkeiten aller Art, trotz der Zweifel und der Skepsis der meisten Kollegen, trotz ihrer eigenen zeitweiligen Mutlosigkeit und Erschöpfung, trotz der (innen unbekannten) schleichenden Wirkung der Radioaktivität auf ihre Körper hatten die Curies am Ende Erfolg und isolierten einige Körnchen des reinen weißen kristallinen Radiumchlorids. Es reichte, um das Atomgewicht des Radiums zu berechnen (226) und ihm seinen angestammten Platz - unter dem Barium - im Periodensystem zuzuweisen.
    Ein Dezigramm eines Elements aus mehreren Tonnen Erz zu gewinnen bedeutete eine beispiellose Leistung. Noch nie war es so schwer gewesen, ein Element zu isolieren. Mit der Chemie allein wäre es nicht zu schaffen gewesen, auch nicht mit der Spektroskopie allein, denn das Erz musste um einen Faktor von tausend konzentriert werden, bevor die ersten schwachen Spektrallinien des Radiums zu erkennen waren. Es bedurfte eines vollkommen neuen Verfahrens - der Verwendung der Radioaktivität selbst -, um die unendlich geringe Konzentration des Radiums in der ungeheuren Masse des umgebenden Materials zu erkennen und sie ständig zu überwachen, während es langsam und mühselig in einen Zustand vollkommener Reinheit gebracht wurde.
    Nach diesem Erfolg nahm das öffentliche Interesse an den Curies ungeahnte Formen an, ein Interesse, das zu gleichen Teilen dem magischen neuen Element und dem romantischheroischen Ehepaar galt, das sich der Erforschung dieses Stoffes so rückhaltlos gewidmet hatte. 1903 fasste Marie Curie die Arbeit der vergangenen sechs Jahre in ihrer Dissertation zusammen, und im gleichen Jahr erhielt sie (zusammen mit Pierre Curie und Becquerel) den Nobelpreis für Physik.
    Ihre Dissertation wurde sofort ins Englische übersetzt und veröffentlicht (von William Crookes in seinen Chemical News) . Meine Mutter besaß ein Exemplar dieser Dissertation in Form einer kleinen Broschüre. Mir gefielen die minuziösen Beschreibungen der komplizierten chemischen Verfahren, die die Curies durchgeführt hatten, die sorgfältigen, systematischen Untersuchungen zu den Eigenschaften des Radiums und vor allem ihr Sinn für das geistige Abenteuer und Staunen, der unter der Oberfläche der nüchternen, wissenschaftlichen Prosa spürbar blieb. Alles war sachlich, sogar prosaisch formuliert - und doch besaß es eine poetische Qualität. Hochinteressant fand ich auch die Anzeigen auf dem Umschlag für Radium, Thorium, Polonium, Uran - jedes für jedermann frei verfügbar, egal, ob für Experimente oder nur zum Spaß.
    A. C. Cossor in der Farringdon Road, wenige Schritte von Onkel Wolframs Haus entfernt, warb mit dem Verkauf von «reinem Radiumbromid (wenn vorrätig), Pechblende… Crookes Hochvakuumröhren, die die Fluoreszenz verschiedener Mineralien zeigten… und anderer wissenschaftlicher Geräte.» Harrington Brothers (in Oliver'sYard, nicht weit entfernt) bot eine Vielzahl von Radiumsalzen und Uranmineralien an. J. J. Griffin and Sons (später wurde daraus Griffin & Tatlock, wo ich, wie erwähnt, meinen Bedarf an Chemikalien deckte) verkauften «Kunzit - das neue Mineral, das hochempfindlich auf die Emanationen von Radium reagiert», während Armbrecht, Nelson & Co. (eine Ecke weiter über den anderen, am Grosvenor Square) Poloniumsulfid führte (in Tuben zu einem Gramm für einundzwanzig Shilling) und Leuchtschirme mit fluoreszierendem Willemit (Sixpence für gut sechs Quadratzentimeter). «Unsere neu entwickelten Thorium-Inhaliergeräte», hieß es weiter, «können ausgeliehen werden. »Was hatte ich mir unter einem Thorium-Inhaliergerät vorzustellen? Fühlte man sich erfrischt und gestärkt, wenn man die radioaktiven Elemente inhalierte?
    Damals schien niemand zu ahnen, wie gefährlich diese Stoffe waren. [62] Marie Curie selbst erwähnte in ihrer Dissertation:

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