Onkel Wolfram - Erinnerungen
fluoreszierten. Umgekehrt verfügten Bariumsulfid, Zinksulfid und bestimmte andere fluoreszierende oder phosphoreszierende Stoffe nicht über diese Fähigkeit. Folglich hatten die «Uranstrahlen», wie Becquerel sie jetzt nannte, nichts mit Fluoreszenz oder Phosphoreszenz als solcher zu tun - sondern nur mit dem Element Uran. Wie Röntgenstrahlen besaßen sie eine sehr beträchtliche Fähigkeit, lichtundurchlässige Stoffe zu durchdringen, wurden aber im Gegensatz zu Röntgenstrahlen offenbar spontan emittiert. Was hatte es mit ihnen auf sich? Und wie konnte Uran diese Strahlen über Monate ununterbrochen aussenden, ohne dass ihre Stärke erkennbar abnahm?
Onkel Abe forderte mich auf, Becquerels Entdeckung in meinem Labor zu wiederholen. Dazu gab er mir einen Klumpen Pechblende, die reich an Uranoxid war. Ich wickelte den schweren Klumpen in Bleifolie und trug ihn in meiner Schulmappe nach Hause. Die Pechblende war fein säuberlich in der Mitte durchgeschnitten, damit man ihre Struktur sah. Mit der Schnittfläche legte ich sie auf einen Film - von Onkel Yitzchak hatte ich ein Blatt Spezialfilm für Röntgenaufnahmen erbettelt und ihn dann in dunkles Papier eingeschlagen. Drei Tage lang ließ ich die Pechblende auf dem eingewickelten Film liegen, dann brachte ich ihn zu meinem Onkel. Ich war völlig außer mir vor Aufregung, als Onkel Yitzchak ihn in meinem Beisein entwickelte, denn jetzt konnte man die radioaktiven Strahlen des Minerals leuchten sehen - Strahlung und Energie, deren Existenz man ohne den Film nie vermutet hätte.
Ich fand dies doppelt faszinierend, weil ich die Fotografie inzwischen zu meinem Hobby gemacht hatte und hier das erste Foto besaß, das von unsichtbaren Strahlen belichtet worden war! Ich hatte gelesen, auch Thorium sei radioaktiv. Da ich wusste, dass Glühstrümpfe Thorium enthielten, löste ich einen der feinen, mit Thoriumdioxid imprägnierten Glühstrümpfe von seiner Befestigung und breitete ihn über ein weiteres Blatt Röntgenfilm. Dieses Mal musste ich länger warten, aber nach zwei Wochen hatte ich ein schönes «Autoradiogramm», auf dem die Thoriumstrahlen die feine Struktur des Glühstrumpfs herausgearbeitet hatten.
Obwohl man Uran seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts kannte, dauerte es mehr als ein Jahrhundert, bis man die Radioaktivität entdeckte. Vielleicht wäre man schon im 18. Jahrhundert auf sie gestoßen, wenn jemand zufällig ein Stück Pechblende dicht neben eine geladene Leidener Flasche oder ein Elektroskop gelegt hätte. Man hätte sie auch Mitte des 19. Jahrhunderts entdecken können, wenn jemand ein Stück Pechblende oder ein anderes Uranerz in der Nachbarschaft einer fotografischen Platte aufbewahrt hätte. (Dies war tatsächlich einem Chemiker passiert, der in Unkenntnis über das wirkliche Geschehen die Platten mit einem bösen Brief an den Hersteller zurückgeschickt und behauptet hatte, sie seien «verdorben».) Doch hätte man die Radioaktivität tatsächlich zu einem früheren Zeitpunkt entdeckt, so hätte man sie einfach als eine Merkwürdigkeit, eine Laune der Natur angesehen und ihre enorme Bedeutung gar nicht geahnt. Ihre Entdeckung wäre zu früh erfolgt, denn es hätte keinen Wissenszusammenhang, keinen Kontext gegeben, der ihr Bedeutung hätte verleihen können. Als die Radioaktivität 1896 endlich entdeckt wurde, fiel die Reaktion zunächst sehr zurückhaltend aus, denn selbst damals vermochte man ihre Bedeutung kaum zu begreifen. Im Gegensatz zu Röntgens Entdeckung der «X-Strahlen», die sofort die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit fesselten, blieb Becquerels Entdeckung der Uranstrahlen praktisch unbeachtet.
KAPITEL EINUNDZWANZIG
MADAME CURIES ELEMENT
Meine Mutter arbeitete an vielen Krankenhäusern, unter anderem am Madame Curie Hospital in Hampstead, einer auf Radiumbehandlungen und Radiotherapie spezialisierten Klinik. Als Kind wusste ich nicht so recht, was Radium eigentlich war, begriff aber, dass es Heilkräfte besaß und zur Behandlung verschiedener Krankheiten diente. Meine Mutter sagte, das Krankenhaus besitze eine «Radiumbombe». Ich hatte Bilder von Bomben gesehen und in meiner Kinderenzyklopädie darüber gelesen, daher stellte ich mir vor, diese Radiumbombe sei ein großes geflügeltes Gebilde, das jeden Augenblick explodieren konnte. Weniger beunruhigend waren die «Radonhohlnadeln», die den Patienten eingesetzt wurden - kleine, mit einem geheimnisvollen Gas gefüllte Goldnadeln. Ein- oder zweimal brachte sie eine
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