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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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schrecklichen Donnerschlägen - einer so entsetzlich laut und nah, dass ich einen Augenblick glaubte, die Schule sei getroffen. Als die anderen aus der Kapelle zurückkehrten, behauptete ich steif und fest, ich sei tatsächlich von einem Blitz getroffen worden, er sei in mich «eingedrungen» und habe sich nun in meinem Gehirn eingenistet.
    Andere Erfindungen, die ich für bare Münze ausgab, hatten mit meiner Kindheit zu tun oder genauer gesagt mit einer Alternativversion, einer phantasierten Kindheit. Ich gab vor, ich sei in Russland geboren (Russland war damals unser Verbündeter, und ich wusste, der Vater meiner Mutter stammte von dorther), und erzählte lange, mit vielen Einzelheiten ausstaffierte Geschichten von Schlittenfahrten, von Pelzen, in die ich eingewickelt worden war, und heulenden Wolfsrudeln, die unsere Schlitten bei Nacht verfolgten. Ich kann mich nicht erinnern, wie diese Geschichten aufgenommen wurden, nur, dass ich eisern an ihnen festhielt.
    Dann wieder behauptete ich, meine Eltern hätten mich aus irgendeinem Grund als Kind ausgesetzt, ich sei jedoch von einer Wölfin gefunden und von ihr unter Wölfen aufgezogen worden. Ich hatte das Dschungelbuch von Kipling gelesen und kannte es fast auswendig, daher war ich in der Lage, meine «Erinnerungen» gebührend auszuschmücken, und erzählte den staunenden Neunjährigen um mich herum von Baghira, dem schwarzen Panther, Balu, dem alten Bären, der mich im Gesetz unterwies, von meiner Freundin Kaa, der Schlange, mit der ich im Fluss schwamm, und Hathi, dem König des Dschungels, der tausend Jahre alt war.
    Im Rückblick auf diese Zeit habe ich den Eindruck, dass ich voller Tagträume und Mythen steckte und manches Mal die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit nicht mehr kannte. Offenbar versuchte ich, eine Identität von absurder, aber eindrucksvoller Art zu erfinden. Ich glaube, mein Gefühl, isoliert zu sein, verlassen und unbekannt, war in St. Lawrence noch stärker als in Braefield, wo ich selbst die sadistischen Aufmerksamkeiten des Schuldirektors als eine Art von Interesse, ja, von Liebe verstehen konnte. Möglicherweise verspürte ich Wut gegen meine Eltern, die sich als blind und taub oder gleichgültig für meine Not erwiesen, sodass ich versucht war, sie durch freundliche und fürsorgliche Russen oder Wölfe zu ersetzen. Als meine Eltern Mitte des Schuljahrs 1943 zu Besuch kamen (und möglicherweise von meinen eigenartigen Phantastereien und Lügen hörten), wurde ihnen schließlich klar, dass ich mich in einer sehr ernsten seelischen Verfassung befand und es wohl ratsam wäre, mich nach London zu bringen, bevor Schlimmeres passierte.
KAPITEL VIER

«EIN IDEALES METALL»
    Im Sommer 1943, nach vier Jahren Exil, kehrte ich nach London zurück, ein zehnjähriger Junge, etwas verschlossen und in gewisser Weise verstört, aber mit einer Leidenschaft für Metalle, für Pflanzen und Zahlen. Das Leben nahm wieder ein gewisses Maß an Normalität an, trotz der allgegenwärtigen Bombenschäden, der Rationierung, der Verdunkelung und des dünnen, schäbigen Papiers, auf dem die Bücher gedruckt wurden. Die Deutschen hatten in Stalingrad einen Rückschlag erlitten, die Alliierten auf Sizilien Stellung bezogen. Es mochte vielleicht noch Jahre dauern, aber an einem Sieg bestand kein Zweifel mehr.
    Zeichen dessen war (für mich), dass mein Vater auf vielen Umwegen etwas ganz Unerhörtes bekommen hatte: eine Banane aus Nordafrika. Niemand von uns hatte seit Kriegsbeginn eine Banane zu Gesicht bekommen, daher teilte mein Vater sie feierlich in sieben gleiche Teile: je einen für meine Mutter und ihn, einen für Tante Birdie und je ein Stück für meine Brüder und mich. Wie eine Hostie legten wir uns den winzigen Bissen auf die Zunge und kosteten ihn andächtig aus, während wir ihn langsam hinunterschluckten. Es war ein sinnliches, fast ekstatisches Geschmackserlebnis, unmittelbare Erinnerung und Symbol vergangener Zeiten und zugleich Vorgriff auf die Zukunft, ein Zeichen, ein Pfand vielleicht, dass ich nun auf Dauer zu Hause bleiben würde.
    Und doch hatte sich vieles verändert. Diese Heimat war ihrerseits bestürzend anders geworden und in vielerlei Hinsicht ganz und gar nicht mehr der geordnete, zuverlässige Haushalt, der er vor dem Krieg gewesen war. Es handelte sich bei uns wohl um einen durchschnittlichen Mittelstandshaushalt, aber solche Haushalte hatten damals einen ganzen Stab von Helfern und Bediensteten, von denen viele für uns Kinder

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