Onkel Wolfram - Erinnerungen
dass die Kurve sich abflachte, erklärte sie mir, die Zuwächse seien «exponentiell». Und das sei die Art und Weise, wie Wachstum generell stattfinde. Diese Quotienten oder geometrischen Verhältnisse seien überall in der Natur zu finden - durch Zahlen werde die Welt zusammengehalten.
Die Verknüpfung von Pflanzen und Gärten und Zahlen gewann für mich einen merkwürdig intensiven, symbolischen Charakter. Ich begann mir ein Königreich oder ein Land der Zahlen vorzustellen, mit einer eigenen Geographie, mit eigenen Sprachen und Gesetzen; und mehr noch einen Garten der Zahlen, einen magischen, geheimen und wundersamen Garten. Ein vor meinen Peinigern und dem Schuldirektor verborgener, für sie alle unerreichbarer Garten, in dem ich mich darüber hinaus irgendwie mit Wohlwollen und Freundlichkeit aufgenommen fühlte. Zu meinen Freunden in diesem Garten gehörten nicht nur Primzahlen und Fibonacci-Sonnenblumen, sondern auch vollkommene Zahlen (wie 6 oder 28, die der Summe ihrer Faktoren, ausgenommen sie selbst, entsprechen); pythagoreische Zahlen, deren Quadrat die Summe zweier anderer Quadrate bildet (zum Beispiel 3, 4, 5 oder 5, 12, 13); oder «befreundete Zahlen» (etwa 220 und 284), Zahlenpaare, deren Faktoren sich zur jeweils anderen Zahl addieren. Und meine Tante hatte mir auch erklärt, dass meinem Zahlengarten ein doppelter Zauber innewohne - er nicht nur schön und freundlich sei, immer da, sondern auch Teil jenes Plans, der dem ganzen Universum zugrunde liege. Zahlen, so meine Tante, seien die Gedanken Gottes.
Von allen Dingen zu Hause in London vermisste ich am meisten die Uhr meiner Mutter, eine schöne alte Standuhr mit einem goldenen Zifferblatt, das nicht nur Zeit und Datum anzeigte, sondern auch die Mondphasen und die Konjunktionen der Planeten. Als ich noch sehr klein war, hatte ich die Uhr für eine Art astronomisches Instrument gehalten, das seine Informationen direkt aus dem Kosmos bezog. Einmal in der Woche öffnete meine Mutter das Gehäuse und zog die Uhr auf. Ich beobachtete, wie sich das schwere Gewicht hob, und berührte (wenn sie mich ließ) die langen Metallhämmer des Glockenspiels für die Stunden und die Viertelstunden.
Dieses Läuten vermisste ich schmerzlich während meiner vier Jahre in Braefield. Manchmal träumte ich nachts davon und bildete mir ein, zu Hause zu sein, um gleich darauf in einem engen, harten Bett aufzuwachen und nicht selten festzustellen, dass ich es nass gemacht hatte. Viele von uns regredierten in Braefield und wurden schrecklich verprügelt, wenn sie ins Bett gemacht hatten.
Im Frühjahr 1943 wurde Braefield geschlossen. Fast alle hatten sich bei ihren Eltern über die Verhältnisse an der Schule beklagt, und fast alle wurden abgemeldet. Ich hatte mich nie beschwert (auch Michael nicht, aber der war 1941, mit dreizehn Jahren, aufs Clifton College gekommen), sodass ich zum Schluss fast nur noch allein übrig blieb. Ich habe nie erfahren, was genau passiert ist - der Direktor verschwand mit seiner grässlichen Frau und dem Kind, und man sagte mir einfach nur am Ende der Ferien, ich würde nicht nach Braefield zurückkehren, sondern eine andere Schule besuchen.
Das St. Lawrence College bestand (wie mir schien) aus einer weitläufigen und eindrucksvollen Anlage mit alten Gebäuden und ebenso alten Bäumen. Es war zweifellos sehr vornehm, doch es schüchterte mich ein. Bei all seinem Schrecken war Braefield mir zumindest vertraut gewesen - ich kannte die Schule, ich kannte das Dorf, ich hatte einen oder zwei Freunde -, während mir in St. Lawrence alles fremd und unbekannt vorkam.
Ich verfüge über merkwürdig wenige Erinnerungen an das Halbjahr, das ich dort verbracht habe. Offenbar habe ich diese Zeit gründlich verdrängt oder vergessen, denn als ich kürzlich im Gespräch mit einer Freundin, die mich gut kennt und alles über Braefield weiß, darauf kam, war sie erstaunt und sagte, ich hätte ihr noch nie von St. Lawrence erzählt. Hauptsächlich erinnere ich mich an die merkwürdigen Lügen oder Scherze oder Phantasien oder Wahnvorstellungen - ich weiß nicht, wie ich es nennen soll -, die ich dort von mir gab.
Besonders allein fühlte ich mich an den Sonntagmorgenden, wenn alle anderen Jungen in die Kirche gingen und ich, der kleine jüdische Junge, allein in der Schule zurückblieb (was mir in Braefield unter den zumeist jüdischen Kindern nicht passiert war). Eines Sonntagmorgens zog ein schreckliches Gewitter auf, mit heftigen Blitzen und
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