Onkel Wolfram - Erinnerungen
hatte). Dieser im Großen und Ganzen wenig bemerkenswerte Zwischenstopp ist mir aus einem ganz bestimmten Grund im Gedächtnis geblieben. Mein Vater, der immer gleich Bademöglichkeiten ausfindig machte, egal, wo wir waren, entdeckte ein großes öffentliches Schwimmbad in der Innenstadt. Und dort begann er auch sofort, mit seinen meisterhaften kraftvollen Schwimmzügen das Becken zu durchpflügen, während ich, in trägerer Stimmung, ein Korkbrett fand, auf dem ich mich erst einmal treiben lassen wollte. Bewegungslos auf meinem Brett oder ganz sachte mit den Händen paddelnd, verlor ich jedes Zeitgefühl. Eine merkwürdige Leichtigkeit, eine Art Entrückung überkam mich - ein Gefühl, das ich manchmal in Träumen erlebte. Ich hatte mich schon früher von Korkbrettern, Gummiringen oder Schwimmflügeln tragen lassen, doch dieses Mal geschah etwas Magisches. Ein langsames Anschwellen, eine ungeheure Woge der Freude hob mich höher und höher, schien endlos zu währen und klang schließlich in wohliger Wonne aus. Es war das schönste und friedlichste Empfinden, das ich je gehabt hatte.
Erst als ich meine Badehose auszog, wurde mir klar, dass ich einen Orgasmus gehabt haben musste. Ich kam nicht auf die Idee, ihn mit «Sex» oder mit anderen Menschen in Zusammenhang zu bringen, ich hatte auch keine Angst oder Schuldgefühle - trotzdem behielt ich das Erlebnis für mich, weil es etwas Magisches, Privates hatte, als ein Segen oder eine Gnade mir spontan und ungesucht zuteil geworden war. Ich hatte das Gefühl, ein großes Geheimnis entdeckt zu haben.
Im Januar 1946 wechselte ich von The Hall, meiner Vorbereitungsschule in Hampstead, an die viel größere Schule St. Paul's in Hammersmith. Und in der dortigen Walker Library begegnete ich zum ersten Mal Jonathan Miller: Ich saß versteckt in einer Ecke und las in einem Buch aus dem 19. Jahrhundert über Elektrostatik - aus irgendeinem Grund galt mein Interesse den «elektrischen Eiern» -, als ein Schatten auf die Seite fiel. Vor mir stand ein erstaunlich hoch aufgeschossener Junge mit sehr wandlungsfähigen Gesichtszügen, verschmitzt schauenden Augen und einem ungebärdigen Schöpf roter Haare. Wir kamen ins Gespräch - und sind seither eng befreundet.
Bis dahin hatte ich nur einen richtigen Freund, Eric Korn, den ich fast von Geburt an kannte. Eric folgte mir ein Jahr später von The Hall nach St. Paul's, woraufhin wir nun ein unzertrennliches Trio bildeten, nicht nur persönlich, sondern auch durch Familienbande verknüpft (dreißig Jahre zuvor hatten unsere Väter gemeinsam Medizin studiert, und noch jetzt waren die Familien gut befreundet). Meine Leidenschaft für die Chemie wurde von Jonathan und Eric nicht unbedingt geteilt, obwohl sie an meinem Natrium-Experiment und noch an ein oder zwei anderen teilnahmen. Doch sie hatten großes Interesse an der Biologie, und so blieb es nicht aus, dass wir uns zu gegebener Zeit im selben Biologiekurs einfanden, wo wir alle für unseren Biologielehrer Sid Pask schwärmten.
Sid war ein phantastischer Lehrer. Gewiss, er war auch engstirnig, fanatisch, mit einem Stottern geschlagen (ein Leiden, das wir ewig nachäfften) und keinesfalls übermäßig intelligent. Mit Überredung, Ironie, Spott oder Gewalt versuchte Mr. Pask uns alle von jeder anderen Beschäftigung fernzuhalten - von Sport und Sex, von Religion und Familie oder von allen übrigen Schulfächern. Er verlangte einfach, dass wir ebenso einseitig wären wie er.
Die Mehrheit seiner Schüler empfand ihn als übermäßig anspruchsvollen Zuchtmeister und unternahm alle Anstrengungen, um sich seiner, wie es hieß, kleinlichen Tyrannei zu entziehen. Der Kampf zog sich eine Zeit lang hin, dann gab es plötzlich keinen Widerstand mehr - diese Schüler waren frei. Pask nörgelte nicht mehr an ihnen herum, stellte keine lächerlichen Ansprüche mehr an ihre Zeit und Energie.
Doch jedes Jahr fanden sich einige Schüler bereit, auf Pasks Bedingungen einzugehen. Im Gegenzug bekamen wir alles, was er zu geben hatte: all seine Zeit und seine ganze Liebe zur Biologie. Bis spät abends blieben wir mit ihm im Naturhistorischen Museum (einmal verbarg ich mich in einer Galerie und schaffte es, die ganze Nacht dort zu verbringen). Jedes Wochenende opferten wir für botanische Exkursionen. An klirrend kalten Wintertagen im Januar standen wir in der Morgendämmerung auf, um an seinem Süßwasserkurs teilzunehmen. Und einmal im Jahr - die Erinnerung stimmt mich fast unerträglich wehmütig
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