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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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fuhren wir mit ihm nach Millport zu einem dreiwöchigen Kurs in Meeresbiologie.
    Millport (Cumbria) vor der schottischen Westküste hatte eine sehr schön ausgestattete Forschungsstation für Meeresbiologie. Wir wurden stets freundlich willkommen geheißen und in alle laufenden Experimente eingeweiht. (Damals wurden gerade grundlegende Beobachtungen zur Entwicklung von Seeigeln vorgenommen, und Lord Rothschild bewies endlose Geduld mit den begeisterten Schuljungen, die sich um ihn scharten und in seine Petrischalen mit den durchsichtigen Pluteuslarven starrten.) Jonathan, Eric und ich erstellten an der felsigen Küste mehrere Populationsprofile, wobei wir alle Tiere und Meerespflanzen zählten, die wir in aufeinander folgenden Abschnitten von dreißig mal dreißig Zentimetern fanden; von der gelben Wandflechte (Xanthoria parietina , so der wohlklingende lateinische Name) hoch oben auf den Klippen bis zur Küste und zu den Gezeitentümpeln hinunter. Dabei erwies sich Eric als besonders gewitzt und einfallsreich. Als wir einmal eine Senkschnur anbringen wollten, um eine zuverlässige Senkrechte zu erhalten, jedoch nichts fanden, woran wir sie hätten befestigen können, löste Eric eine Napfschnecke vom Fuße eines Steins, legte die Spitze der Senkschnur darunter und setzte die Schnecke wieder an den Stein, sodass sie das Band wie eine natürliche Reißzwecke festhielt.
    Jeder von uns nahm sich einer bestimmten zoologischen Gruppe an: Eric entwickelte eine Vorliebe für Seegurken (Holothuridae), Jonathan für schillernde Borstenwürmer (Polychaeten) und ich für Tintenfische, Kraken und Kopffüßer (Cephalopoden) - die intelligentesten und in meinen Augen auch die schönsten Wirbellosen. Jonathans Eltern hatten in Hythe in Kent ein Haus für den Sommer gemietet, und eines Tages fuhren wir alle mit einem Trawler hinaus zum Fischfang. Meist warfen die Fischer die Tintenfische, die sich in ihren Netzen verfingen, wieder ins Meer zurück (damals war man in England noch nicht auf den Geschmack gekommen). Doch ich bat flehentlich darum, sie mir zu überlassen, und als wir wieder in den Hafen einliefen, müssen sich Dutzende von Tintenfischen an Deck befunden haben. Wir trugen sie alle in Eimern und Kübeln mit nach Hause, brachten sie im Keller in großen Gläsern unter und gaben ein bisschen Alkohol hinzu, um sie zu konservieren. Da Jonathans Eltern nicht da waren, konnten wir ungehindert schalten und walten. Alle diese Tintenfische wollten wir mit in die Schule nehmen und Sid bringen - wir malten uns sein erstauntes Lächeln aus, wenn wir damit ankamen. Für jeden in der Klasse würde es einen Tintenfisch zum Sezieren geben, und für jeden Cephalopoden-Fan sogar zwei oder drei. Ich selbst würde im Field Club einen kleinen Vortrag über diese Tiere halten, mich über ihre Intelligenz auslassen, ihre großen Gehirne, ihre Augen mit aufgerichteten Netzhäuten, ihre rasch wechselnde Färbung.
    Einige Tage später, an dem Tag, an dem wir Jonathans Eltern zurückerwarteten, hörten wir dumpfe Schläge aus dem Keller. Als wir nachsahen, bot sich uns ein entsetzlicher Anblick: Die unzulänglich konservierten Tintenfische waren verfault und vergoren. Die dabei entstandenen Gase hatten die Gläser zur Explosion gebracht und große Klumpen Tintenfisch überall an die Wände und über den Fußboden geschleudert; sogar an der Decke klebten Tintenfischreste. Der Verwesungsgestank spottete jeder Beschreibung. Wir gaben uns alle Mühe, die explodierten, zerquetschten Reste der Tintenfische von den Wänden zu kratzen. Mit Brechreiz kämpfend, spritzten wir den Keller ab, und als wir Fenster und Türen öffneten, um ihn durchzulüften, breitete sich der Gestank nach draußen aus. Wie eine Art Miasma kroch der unerträgliche Geruch fünfzig Meter in jede Richtung.
    Eric, nie um einen Einfall verlegen, schlug vor, den Gestank mit einem noch stärkeren, aber angenehmeren Geruch zu überdecken oder zu vertreiben - eine Kokosnuss-Essenz hielten wir für genau das Richtige. Wir legten zusammen und kauften eine große Flasche, mit der wir erst den Keller einsprengten und sie dann großzügig auf den Rest des Hauses und das Grundstück verteilten.
    Als Jonathans Eltern eine Stunde später eintrafen und auf ihr Haus zugingen, nahmen sie einen überwältigenden Kokosnußgeruch wahr. In unmittelbarer Nähe des Hauses gerieten sie jedoch in eine Gestankzone des verdorbenen Tintenfisches - die beiden Gerüche beziehungsweise das Gemisch hatte sich aus

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