Onkel Wolfram - Erinnerungen
negative Teilchen emittierte, wurde allmählich positiv geladen, woraufhin die Goldplättchen auseinanderstrebten bis sie die Wände des Gefäßes berührten und sich entluden; daraufhin begann der Zyklus von vorne. Seit mehr als dreißig Jahren öffnete und schloss diese «Uhr» nun schon ihre Goldblätter und würde damit noch eintausend Jahre fortfahren - die größte denkbare Annäherung, so Onkel Abe, an eine ewig laufende Maschine.
Während Uran kaum mehr als leichtes Kopfzerbrechen bereitet hatte, stellten sich die Fragen nach der Radioaktivität sehr viel nachdrücklicher, sobald das Radium isoliert war, denn es war eine Million Mal so radioaktiv wie Uran. Zwar vermochte auch Uran eine fotografische Platte zu verdunkeln (was allerdings einige Tage dauerte) oder ein hochempfindliches Goldblattelektroskop zu entladen, doch Radium leistete dasselbe im Bruchteil einer Sekunde. Mit der Heftigkeit der eigenen Aktivität leuchtete es spontan. Außerdem vermochte es, wie sich im Laufe des nächsten Jahrhunderts herausstellte, undurchsichtige Stoffe zu durchdringen, Luft zu ozonisieren, Glas zu färben, Fluoreszenz anzuregen sowie lebendes Gewebe zu verbrennen und zu zerstören, was therapeutische oder zerstörerische Wirkung haben konnte.
Bei allen anderen Strahlungsarten, von den Röntgenstrahlen bis zu den Radiowellen, musste die Energie von einer äußeren Quelle geliefert werden. Doch radioaktive Elemente hatten offenbar ihre eigene Kraftquelle und konnten Energie über Monate und Jahre ausstrahlen, ohne in ihrer Intensität nachzulassen, und weder Wärme noch Kälte, weder Druck noch magnetische Felder, Bestrahlung oder chemische Reagenzien änderten das Geringste daran.
Woher stammte diese ungeheure Energiemenge? Zu den unverrückbarsten Grundsätzen der Physik gehörte das Prinzip der Energieerhaltung - wonach sich Materie und Energie weder erschaffen noch vernichten lassen. Nie hatte es einen ernst zu nehmenden Hinweis darauf gegeben, dass es irgendwelche Abweichungen von diesen Prinzipien gäbe, und doch hatte es zunächst den Anschein, als sei genau dies beim Radium der Fall - als habe man hier ein Perpetuum mobile , eine kostenlose, dauerhafte und unerschöpfliche Energiequelle.
Ein Ausweg aus dieser logischen Sackgasse bestand in der Annahme, dass die Energie von radioaktiven Stoffen eine äußere Quelle habe. Und genau dies nahm Becquerel zunächst tatsächlich an, indem er von einer Parallele zur Phosphoreszenz ausging - radioaktive Stoffe nähmen von irgendetwas, von irgendwo Energie auf und gäben sie dann langsam, auf ihre eigene Weise wieder ab. (Zur Bezeichnung dieses hypothetischen Geschehens prägte er den Ausdruck Hyperphosphoreszenz.)
Die Annahme einer äußeren Quelle - vielleicht einer röntgenartigen Strahlung, die die Erde einhüllt - hatten sich auch die Curies kurzzeitig zu Eigen gemacht und daher eine Probe Radiumkonzentrat an Hans Geitel und Julius Elster in Deutschland geschickt. Elster und Geitel waren eng befreundet (man bezeichnete sie als «Kastor und Pollux der Physik») und hervorragende Experimentatoren. Sie hatten bereits nachgewiesen, dass Radioaktivität nicht von Vakua, Kathodenstrahlen oder Sonnenlicht beeinträchtigt wurde. Als sie die Probe mehrere Hundert Meter tief in ein Bergwerk im Harz schafften - an einen Ort, wo keine Röntgenstrahlen hinreichen konnten -, stellten sie fest, dass die Radioaktivität unvermindert anhielt.
Konnte die Energie des Radiums aus dem Äther stammen, jenem geheimnisvollen, immateriellen Medium, das angeblich jede Ecke und jeden Winkel des Universums füllte und die Ausbreitung von Licht, Gravitation und allen anderen Formen kosmischer Energie möglich machte? Diese Ansicht äußerte zumindest Mendelejew, als er die Curies besuchte. Dabei gab er seiner Argumentation eine spezifisch chemische Wendung, indem er vermutete, der Äther bestehe aus einem sehr leichten «Ätherelement», einem Edelgas, das in der Lage sei, die gesamte Materie ohne chemische Reaktion zu durchdringen, und dessen Atomgewicht nur halb so groß sei wie das des Wasserstoffs. (Dieses neue Element, so glaubte er, sei bereits in der Sonnenkorona beobachtet worden, daher nannte er es Coronium.) Darüber hinaus ging Mendelejew noch von einem ultraleichten ätherischen, den gesamten Kosmos durchdringenden Element aus, dessen Atomgewicht um einen Faktor von mehr als einer Milliarde kleiner sei als das des Wasserstoffs. Atome dieser ätherischen Elemente, so meinte er,
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