Onkel Wolfram - Erinnerungen
würden von den schweren Atomen des Urans und Thoriums angezogen und irgendwie von ihnen absorbiert, was sie wiederum mit ätherischer Energie ausstatte. [63]
(Ich war verwirrt, als ich zum ersten Mal vom Äther las, und verwechselte ihn mit der leicht entzündlichen, flüchtigen, scharf riechenden Flüssigkeit, die meine Mutter in ihrer Anästhesietasche hatte.) Einen «lichtfortpflanzenden» Äther hatte Newton als das Medium postuliert, in dem sich Lichtwellen ausbreiteten, doch man habe, wie Onkel Abe mir berichtete, schon in seiner Jugend Zweifel an der Existenz des Äthers gehabt. Maxwell war in der Lage gewesen, ihn in seinen Gleichungen außer Acht zu lassen, und ein berühmtes Experiment Anfang der neunziger Jahre hatte keine «Ätherdrift» nachweisen können, keinerlei Auswirkung auf die Erdbewegung oder die Lichtgeschwindigkeit wie man bei einer Existenz von Äther hätte erwarten können. Doch zweifellos war das Ätherkonzept zu der Zeit, als die Radioaktivität entdeckt wurde, in den Köpfen vieler Wissenschaftler noch fest verwurzelt, daher war es selbstverständlich, dass sie zunächst darauf zurückgriffen, als sie nach einer Erklärung für die rätselhaften Energien suchten. [64]
Wenn es bei Uran vielleicht - gerade noch - vorstellbar erschien, dass die langsame, zähflüssige Energieabgabe aus einer äußeren Quelle stammte, ließ sich diese These beim Radium schwerer glauben, denn Radium war (wie Pierre Curie und Albert Laborde im Jahr 1903 nachweisen sollten) in der Lage, innerhalb einer Stunde eine Wassermenge seines eigenen Gewichts vom Gefrierpunkt zum Siedepunkt zu bringen. [65] Noch schwieriger wurde dies bei Stoffen, die sehr viel radioaktiver waren, etwa reinem Polonium (ein kleines Stück davon wurde spontan rotglühend) oder Radon, das 200 000 Mal radioaktiver war als Radium selbst - so radioaktiv, dass ein halber Liter davon jedes mögliche Aufbewahrungsgefäß augenblicklich verdampfen ließe. Eine derartige Wärmeenergie ließ sich mit keiner ätherischen oder kosmischen Hypothese mehr erklären.
Ohne eine plausible äußere Energiequelle mussten die Curies wieder zu ihrer ursprünglichen Annahme zurückkehren, dass nämlich die Energie des Radiums einen inneren Ursprung habe, eine «atomare Eigenschaft» sei - obwohl der zugrunde liegende Mechanismus kaum vorstellbar war. Bereits 1898 brachte Marie Curie eine noch kühnere, ja ungeheuerliche These vor: Die Radioaktivität stamme möglicherweise aus dem Zerfall von Atomen, sie könne «eine Emission materieller Teilchen» sein, die von einem Gewichtsverlust der radioaktiven Substanzen begleitet wird. Diese Hypothese dürfte noch absonderlicher geklungen haben als ihre Alternativen, weil es in der Naturwissenschaft als Axiom, als grundlegende Annahme, galt, dass Atome unzerstörbar, unwandelbar und unspaltbar seien - auf dieser Annahme bauten die gesamte Chemie und die klassische Physik auf. In Maxwells Worten:
Obwohl sich im Laufe der Zeitalter Katastrophen ereignet haben und im Kosmos möglicherweise immer noch ereignen, obwohl sich alte Systeme aufgelöst und sich neue aus ihren Trümmern entwickelt haben mögen, bleiben die [Atome], aus denen diese Systeme aufgebaut sind - die Bausteine des materiellen Universums -, doch heil und unbeschadet. Sie sind heute noch genauso, wie sie erschaffen wurden - vollkommen in Anzahl, Maß und Gewicht.
Alle wissenschaftlichen Traditionen, von Demokrit bis Dalton, von Lukrez bis Maxwell, beriefen sich auf diesen Grundsatz. Da erscheint es nur zu verständlich, dass Marie Curie nach dem ersten kühnen Gedanken an einen möglichen Atomzerfall wieder Abstand nahm von dieser Idee und ihre Dissertation (in ungewöhnlich poetischer Sprache) mit den Worten beendete: «So bleibt doch die Ursache der selbsttätigen Strahlung geheimnisvoll, und die Erscheinung ist für uns noch immer ein Rätsel und ein Gegenstand tiefsten Erstaunens.»
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
STRASSE DER ÖLSARDINEN
In dem Sommer nach dem Krieg reisten wir in die Schweiz, weil es das einzige Land auf dem Kontinent war, das der Krieg nicht verwüstet hatte, und weil wir uns nach sechs Jahren Bombardierung, Rationierung, Sparsamkeit und Einschränkungen ein bisschen Normalität gönnen wollten. Die Veränderung fiel schon bei Überquerung der Grenze ins Auge - die Uniformen der Schweizer Zollbeamten waren neu und glänzend, ganz anders als die schäbigen Uniformen auf der französischen Seite. Sogar der Zug schien sauberer und
Weitere Kostenlose Bücher