Onkel Wolfram - Erinnerungen
heller zu werden, sich mit neuer Kraft und Geschwindigkeit vorwärts zu bewegen. In Luzern wurden wir von einem elektrischen Brougham abgeholt. Hoch und altmodisch, mit riesigen Glasfenstern - ein Gefährt, das meine Eltern aus ihrer Kindheit kannten, in dem sie aber noch nie gefahren waren. So brachte uns der alte Brougham lautlos zum Schweizerhof, ein Hotel, das riesiger und prächtiger war als alles, was ich mir je vorgestellt hatte. In der Regel wählten meine Eltern relativ bescheidene Ferienunterkünfte, doch dieses Mal stand ihnen der Sinn nach etwas ganz anderem, nach dem verschwenderischsten, luxuriösesten, opulentesten Hotel von ganz Luzern - eine Extravaganz, die sie nach sechs Kriegsjahren für erlaubt hielten.
Der Schweizerhof ist mir noch aus einem anderen Grund im Gedächtnis geblieben, denn dort habe ich das erste (und letzte) Konzert meines Lebens gegeben. Der Tod meiner Klavierlehrerin Mrs. Silver war etwas mehr als ein Jahr her, und ich hatte seitdem kein Klavier angerührt, doch etwas Lichtes, Befreiendes löste die Erstarrung, weckte plötzlich den Wunsch, wieder zu spielen, und zwar für andere Menschen. Obwohl ich mit Bach und Scarlatti groß geworden war, hatte ich (unter Mrs. Silvers Einfluss) eine große Neigung zu den Romantikern entwickelt vor allem zu Schumann und zu den vorwärts drängenden, mitreißenden Masurken Chopins. Viele waren technisch zu anspruchsvoll für mich, trotzdem kannte ich die etwa fünfzig Masurken auswendig und konnte zumindest (jedenfalls bildete ich es mir ein) ein Gefühl für sie und ihre Vitalität vermitteln. Sie waren zwar nur Miniaturen, doch jede schien eine ganze Welt zu enthalten.
Irgendwie bewogen meine Eltern die Hotelleitung, mir in ihrem Salon Gelegenheit zu einem Konzert zu geben, den Flügel zu benutzen (den größten, den ich je gesehen hatte, ein Bösendorfer mit einigen zusätzlichen Tasten, die der Bechstein nicht hatte) und bekannt zu geben, dass am kommenden Donnerstagabend ein Konzert «des jungen englischen Pianisten Oliver Sacks» stattfinden werde. Das erschreckte mich, und je näher der Tag heranrückte, desto nervöser wurde ich. Doch als der Abend dann kam, zog ich meinen besten Anzug an (ich hatte ihn einen Monat zuvor für meine Bar-Mizwa bekommen), betrat den Salon, verbeugte mich, ordnete meine Gesichtszüge zu einem Lächeln und setzte mich an den Flügel (wobei ich mir vor Angst fast in die Hosen machte). Nach den Eröffnungstakten der ersten Masurka wurde ich von ihr fortgerissen und ließ sie pompös ausklingen. Die Zuhörer reagierten freundlich mit Klatschen, Lächeln und Nachsicht gegenüber meinen Schnitzern, daher nahm ich gleich die nächste in Angriff, und wieder die nächste, und beendete meine Darbietung schließlich mit einem posthumen Werk (von dem ich mich vage zu erinnern meinte, dass es nach Chopins Tod von jemand anderem vollendet worden war).
Der Auftritt bereitete mir ein ganz besonderes, seltenes Vergnügen. Meine Beschäftigung mit der Chemie, Mineralogie oder Physik blieb immer höchst privat - außer meinen Onkeln nahm niemand daran teil. Dieses Klavierkonzert dagegen fand in aller Öffentlichkeit statt, in einem Kontext von Anerkennung, Austausch, Geben und Nehmen. Es war der Beginn von etwas Neuem, der Anfang einer Beziehung.
Schamlos genossen wir den Luxus des Schweizerhofs, lagen stundenlang, wie mir schien, in den riesigen Marmorbädern und stopften in dem noblen Restaurant die üppigen Mahlzeiten in uns hinein. Schließlich bekamen wir das Wohlleben über und unternahmen erste Wanderungen durch die alte Stadt mit ihren winkligen Gassen und den unerwarteten Ausblicken auf Berge und See. Mit der Zahnradbahn fuhren wir auf den Gipfel des Rigi - es war das erste Mal, dass ich mit einer Zahnrad- oder einer Seilbahn fuhr und auf einem Berg stand. Anschließend bezogen wir in dem Bergdorf Arosa Quartier, wo die Luft kühl und trocken war und wo ich zum ersten Mal Edelweiß und Enzian sah. Wir besuchten die Kirchen aus bemaltem Holz und lauschten dem Alphorn, das von Tal zu Tal ertönte. Ich glaube, es war in Arosa mehr noch als in Luzern, dass mich endlich ein Gefühl der Freude überkam, ein plötzlich einsetzendes Empfinden von Freiheit und Erlösung, von der Süße des Lebens, von Zukunft und Verheißung. Ich war dreizehn - dreizehn! -, hatte ich nicht das ganze Leben vor mir?
Auf der Rückreise machten wir in Zürich Halt (der Geburtsstadt des Mathematikers Euler, wie Onkel Abe mir einmal erzählt
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