Onkel Wolfram - Erinnerungen
überaus wichtig waren, wuchsen wir doch mit sehr beschäftigten und bis zu einem gewissen Grade abwesenden Eltern auf. Da gab es die ältere Kinderschwester Yay, die seit Marcus' Geburt im Jahr 1923 bei uns lebte (ich wusste nie genau, wie ihr Name buchstabiert wurde, stellte mir aber, als ich lesen gelernt hatte, vor, er werde «Yea» geschrieben - Bibellektüre hatte meine Begeisterung für Worte wie lo und hark und yea geweckt). Dann mein eigenes Kindermädchen, Marion Jackson, an der ich leidenschaftlich hing - meine ersten verständlichen Worte (so heißt es) seien ihr Name gewesen, jede Silbe mit babyhafter Langsamkeit und Sorgfalt ausgesprochen. Yay trug Schwesterntracht und Haube, was auf mich etwas streng und abweisend wirkte, doch Marion Jackson hatte immer weiche, weiße Kleider an, weich wie Vogelfedern, in die ich mich kuschelte und ein Gefühl höchster Geborgenheit empfand.
Dann war da Marie, die Köchin und Haushälterin, mit gestärkter Schürze und geröteten Händen, und eine «Zugehfrau», deren Namen ich vergessen habe und die Marie half. Außer diesen vier Frauen gab es noch Don, den Chauffeur, und Swain, den Gärtner, die sich die schwere Arbeit im Haus teilten.
Von alledem überstand weniges den Krieg. Yay und Marion Jackson verschwanden - wir waren jetzt «groß». Der Gärtner und der Chauffeur waren fort, und meine Mutter (jetzt fünfzig) beschloss, ihr Auto selbst zu fahren. Marie sollte eigentlich zurückkommen, tat es aber nicht. An ihrer Stelle kümmerte sich Tante Birdie um die Besorgungen und das Kochen. [1]
Auch äußerlich hatte sich das Haus verändert. Wie alles im Krieg waren auch die Kohlen knapp geworden, daher hatte man den großen Dampfkessel abgeschaltet. Es gab einen kleinen Ölbrenner von sehr begrenzter Kapazität, sodass jetzt viele der Extrazimmer im Haus nicht mehr genutzt wurden.
Da ich nun «groß» war, bekam ich auch ein größeres Zimmer. Es hatte vorher Marcus gehört, der inzwischen wie David die Universität besuchte. Hier fand ich eine Gasheizung, einen alten Schreibtisch und eigene Bücherregale, und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, über einen eigenen Platz, einen eigenen Raum zu verfügen. Ich verbrachte Stunden darin, in denen ich las und von Zahlen, von der Chemie und von Metallen träumte.
Vor allem aber machte es mir Freude, dass ich Onkel Wolfram wieder besuchen konnte - zumindest seine Welt schien sich kaum verändert zu haben (obwohl auch Wolfram etwas knapp geworden war, weil große Mengen davon für die Herstellung von Panzerplatten benötigt wurden). Ich glaube, auch ihn vergnügte es, dass sein junger Schützling wieder da war, denn er verbrachte Stunden mit mir in seiner Fabrik und seinem Labor und beantwortete meine Fragen schneller, als ich sie stellen konnte. In seinem Büro standen mehrere Vitrinen, von denen eine elektrische Glühlampen enthielt: mehrere Edison-Lampen aus den frühen achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit Glühfaden aus verkohltem Garn; eine Glühlampe von 1897 mit Osmiumfaden und mehrere Glühlampen aus der Zeit der Jahrhundertwende mit Glühfaden aus Tantal, die sich wie Spinnweben zickzackförmig durch das Innere wanden. Es gab auch neuere Modelle - Onkels besonderer Stolz, weil er einige von ihnen selbst entwickelt hatte - mit Wolframfaden in allen Formen und Größen. Ein Ausstellungsstück trug die Inschrift «Glühlampe der Zukunft?». Sie hatte keine Fäden, und neben ihr lag eine Beschriftungskarte mit dem Wort Rhenium .
Von Platin hatte ich gehört, aber die anderen Metalle - Osmium, Tantal, Rhenium - waren neu für mich. In einer Vitrine neben den Glühlampen bewahrte Onkel Dave Proben all dieser Metalle und auch einige ihrer Erze auf. Oft nahm er sie in die Hand und schwärmte von ihren einzigartigen, unvergleichlichen Eigenschaften, wie man sie entdeckt und veredelt hatte und warum sie sich so vorzüglich für die Herstellung von Glühfäden eigneten. Wenn Onkel von den Metallen für Glühfäden sprach, «seinen» Metallen, bekamen sie in meiner Vorstellung eine ganz besondere Attraktivität und Bedeutung - edel, dicht, unschmelzbar, glühend.
Er nahm einen pockennarbigen grauen Brocken aus dem Schrank. «Dicht, was?», sagte er und warf ihn mir zu. «Das ist ein Platinnugget. So wird es gefunden, als Nuggets aus reinem Metall. Die meisten Metalle kommen in der Natur als Verbindungen mit anderen Stoffen vor, als Erze. Es gibt nur wenige Metalle, die wie Platin in gediegener Form
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