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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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auftauchen - Gold, Silber, Kupfer und ein oder zwei andere.» Diese anderen Metalle kenne man seit vielen tausend Jahren, aber Platin habe man erst vor zweihundert Jahren «entdeckt». Die Inkas hätten es zwar schon jahrhundertelang geschätzt, aber dem Rest der Welt sei es unbekannt geblieben. Zuerst hat man das «schwere Silber» als störende Beimischung und Verfälschung des Goldes betrachtet und es an den tiefsten Stellen des Flusses versenkt, damit es die Pfannen der Goldwäscher nicht noch einmal «verschmutzte». Doch Ende des 18. Jahrhunderts hat das neue Metall ganz Europa bezaubert - es war dichter und schwerer als Gold und «edel» wie dieses, das heißt, es oxidierte nicht und glänzte wie Silber (daher sein spanischer Name platina , «kleines Silber»).
    Platin werde oft zusammen mit zwei anderen Metallen gefunden, Iridium und Osmium, die noch dichter, härter, feuerfester seien. Dabei nahm der Onkel einige Proben aus der Vitrine und legte sie mir in die Hand, kaum mehr als Splitter, so groß wie Linsen, aber erstaunlich schwer. Es handelte sich um «Osmiridium», eine natürliche Legierung aus Osmium und Iridium, den beiden dichtesten Stoffen der Welt. Für mich hatte diese Schwere und Dichte - ich könnte nicht sagen, warum - etwas Erregendes, und zugleich vermittelten sie mir ein überwältigendes Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Osmium habe darüber hinaus den höchsten Schmelzpunkt aller Platinmetalle, erklärte Onkel Dave, deshalb habe man, obwohl es so selten und kostspielig sei, die Platinfäden in Glühlampen für eine Zeit damit ersetzt.
    Der größte Vorzug der Platinmetalle lag darin, dass sie einerseits so edel und formbar sind wie Gold, andererseits aber sehr viel höhere Schmelzpunkte haben, was ihnen eine ideale Eignung für chemische Apparate verleiht. Schmelztiegel aus Platin können extremste Temperaturen aushaken. Platinbecher und -Spachtel seien unempfindlich gegen aggressivste Säuren, meinte Onkel und holte einen kleinen Schmelztiegel aus der Vitrine, herrlich glatt und glänzend. Er sah nagelneu aus. «Der ist um 1840 angefertigt worden - hundert Jahre Gebrauch haben fast keine Spuren hinterlassen.»
    Jack, der älteste Sohn meines Großvaters, war 1867 vierzehn Jahre alt, als man in der Nähe von Kimberley in Südafrika Diamanten fand und der große Sturm darauf losbrach. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts gingen Jack und zwei seiner Brüder - Charlie und Henry (Henry war von Geburt an taub und verständigte sich mit der Gebärdensprache) - als Chemiker und Ingenieure nach Südafrika in die Diamanten-, Uran- und Goldbergwerke, um dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ein Vermögen zu machen (ihre Schwester Rose begleitete sie). 1873 ging mein Großvater eine zweite Ehe ein, in der er dreizehn weitere Kinder zeugte. Die kursierenden Familienmythen - vermutlich eine Mischung aus den Geschichten der älteren Söhne, Rider Haggards Erzählung König Salomons Schatzkammer und den alten Legenden vom Tal der Diamanten - veranlassten zwei der Nachgeborenen (Sydney und Abe), sich ihren Halbbrüdern in Afrika anzuschließen. Später stießen noch zwei der jüngeren Brüder, Dave und Mick, dazu, sodass schließlich sieben der neun Landaubrüder als Geologen in südafrikanischen Minen beschäftigt waren.
    Eine Fotografie, die immer in unserem Haus hing (und nun in meinem hängt), zeigt die Familie im Jahr 1902 - Großvater, der Patriarch mit langem Bart, seine zweite Frau Chaya und ihre dreizehn Kinder. Darunter meine Mutter als ein kleines Mädchen von sechs oder sieben Jahren und ihre jüngste Schwester Dooggie - das jüngste von achtzehn Kindern -, gerade mal eine flaumige Kugel am Boden. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass Abe und Sydney hineinretuschiert worden sind (der Fotograf hat alle anderen gleich so angeordnet, dass für die beiden Platz blieb), denn sie waren zu dieser Zeit noch in Südafrika - zurückgehalten, und möglicherweise in Gefahr, durch den Burenkrieg. [2]
    Die älteren Halbbrüder, mittlerweile verheiratet und heimisch geworden, blieben ganz in Südafrika. Sie kehrten nie nach England zurück, doch ständig zirkulierten in der Familie Geschichten über sie, ins Legendenhafte überhöht durch die mythenbildende Gestaltungskraft der Familienphantasie. Die jüngeren Brüder - Sydney, Abe, Mick und Dave - kehrten bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach England zurück, bewaffnet mit exotischen Erzählungen und Trophäen aus ihrer

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