Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
Vom Netzwerk:
Waffen - viel gefährlicher als Blei.»
    Zu Beginn des Jahrhunderts habe man versucht, Kanonenkugeln aus Wolfram zu gießen, fügte er hinzu, aber das Metall habe sich als zu hart erwiesen, um es zu bearbeiten - immerhin hat man es manchmal für Pendeluhrgewichte verwendet. Würde man die Erde wiegen wollen und eine sehr dichte, kompakte Masse als «Gegengewicht» brauchen, dann ließe sich nichts Besseres finden als eine riesige Wolframkugel, so Onkel Dave. Nach seinen Berechnungen würde eine Kugel von lediglich einem Meter Durchmesser mehr als zehn Tonnen wiegen.
    Ein Wolframerz, das Scheelit, sei nach dem großen schwedischen Chemiker Carl Wilhelm Scheele benannt worden, der als Erster nachgewiesen habe, dass es ein neues Element enthalte. Das Erz war so dicht, dass die Bergleute es «schwerer Stein» (tung sten) nannten, deshalb im Englischen der Name Tungsten für Wolfram. Scheelit bildet schöne orangefarbene Kristalle, die unter ultraviolettem Licht hellblau fluoreszieren. Proben von Scheelit und anderen fluoreszierenden Mineralien verwahrte Onkel Dave in einer besonderen Vitrine in seinem Büro. Mir schien, das dämmrige Licht der Farringdon Road an einem Novemberabend würde eine Verwandlung erleben, wenn er seine Wood-Lampe anschaltete und die Erzklumpen in seiner Vitrine plötzlich in Orange, Türkis, Karmesin und Grün erstrahlten.
    Zwar sei Scheelit die Hauptquelle für Wolfram, fuhr Onkel fort, doch zuerst sei es in einem anderen Mineral entdeckt worden, dem Wolframit. Deshalb heiße das Metall manchmal auch Wolfram und habe das chemische Symbol W. Das fand ich aufregend, weil ich selbst mit zweitem Vornamen Wolf heiße. Ergiebige Wolframvorkommen finde man häufig bei Zinnerzen und das Wolfram erschwere es, das Zinn auszubringen. So erkläre sich auch die Bezeichnung «Wolfram» - denn wie ein hungriges Raubtier «erbeute» es das Zinn. Mir gefiel der Name «Wolfram», sein scharfer, animalischer Anklang, die Assoziation von räuberischem, wölfischem Tun - es war wie ein festes Band zwischen Onkel Tungsten, Onkel Wolfram, und mir, O. Wolf Sacks.
    «Die Natur liefert uns Kupfer, Silber und Gold als reine Metalle», sagte Onkel, «in Südamerika und im Ural finden sich auch Platinmetalle.» Bei solchen Gelegenheiten holte er gern die entsprechenden Metalle aus seiner Vitrine - Splitter aus rosigem Kupfer; drahtiges nachgedunkeltes Silber oder Goldkörner, die Goldsucher in Südafrika gewaschen hatten. «Stell dir vor, wie es gewesen sein muss, als man zum ersten Mal Metall erblickte - ein plötzliches Aufblitzen von reflektiertem Sonnenlicht, jähes Glitzern in einem Felsen oder am Grund eines Flusses!»
    Die meisten Metalle kämen jedoch in Form von Oxiden oder «Erden» vor. Von Erden weiß man, dass sie unlöslich, unverbrennbar, unschmelzbar und, wie ein Chemiker aus dem 18. Jahrhundert geschrieben habe, «bar jeden Metallglanzes» sind. Und doch erkannte man ihre enge Verwandtschaft mit Metallen, dass sie sich sogar in Metalle umwandeln ließen, wenn man sie mit Holzkohle erhitzte, während reine Metalle zu Erden wurden, wenn man sie an der Luft erwärmte. Was sich tatsächlich in diesen Prozessen ereignete, verstand man jedoch nicht. Lange vor der Theorie kann man ein gründliches praktisches Verständnis haben: Man war durchaus in der Lage, Erze zu schmelzen und Metalle herzustellen, ohne wirklich zu verstehen, was da vor sich ging.
    Onkel Dave malte sich aus, wie zum ersten Mal Metall geschmolzen wurde, wie die Höhlenmenschen vielleicht mit Steinen, die ein Kupfermineral enthielten - etwa grünen Malachit -, ein Feuer einfassten und plötzlich, als sich das Holz in Holzkohle verwandelte, bemerkten, dass der grüne Stein zu bluten begann, sich in eine rote Flüssigkeit verwandelte, geschmolzenes Kupfer.
    Heute wüssten wir, fuhr er fort, dass sich bei der Erwärmung von Oxiden mit Holzkohle der Kohlenstoff der Holzkohle mit dem Sauerstoff der Oxide verbindet und sie auf diese Weise «reduziert», sodass das reine Metall übrig bleibt. Ohne die Fähigkeit, Metalle aus ihren Oxiden zu reduzieren, hätten wir, so Onkel Dave, nie irgendwelche Metalle außer den wenigen natürlich vorkommenden entdeckt. Nie hätte es eine Bronzezeit gegeben, von der Eisenzeit ganz zu schweigen. Nie wäre es zu den faszinierenden Entdeckungen des 18. Jahrhunderts gekommen, als man die eineinhalb Dutzend neuen Metalle (einschließlich des Wolframs!) aus ihren Erzen gewann.
    Onkel Dave zeigte mir reines Wolframoxid,

Weitere Kostenlose Bücher