Onkel Wolfram - Erinnerungen
Menschheit endlich gelungen war, die Dunkelheit zu vertreiben. Die Glühlampe habe mehr zur Veränderung sozialer Gewohnheiten und menschlichen Lebens getan, so Onkel Wolfram, als irgendeine andere Erfindung, die er kenne.
Und in vielerlei Hinsicht sei die Geschichte der chemischen Entdeckungen untrennbar mit der Suche nach Licht verknüpft. Vor 1800 hatte man lediglich Kerzen oder einfache Öllampen, wie es sie schon seit Tausenden von Jahren gab. Ihr Licht glimmte sehr schwach, und nachts konnte man sich auf die dunklen und gefährlichen Straßen eigentlich nur mit einer Laterne oder bei Vollmond wagen. Es gab einen enormen Bedarf an einer effizienten Form von Beleuchtung für Haus und Straße.
Anfang des 19. Jahrhunderts führte man das Gaslicht ein und experimentierte dabei mit neuen Techniken. Unterschiedliche Brenner erzeugten Gasflammen verschiedener Form. So gab es die Fledermaus-, Schmetterlings-, Schlitz- oder Schnittbrenner.
Ich fand die Namen, wenn ich sie aus dem Mund meines Onkels hörte, nicht weniger schön als die Flammen.
Doch die Gasflammen mit ihren glühenden Kohlenstoffteilchen brannten kaum heller als Kerzenflammen. Man brauchte noch irgendetwas Zusätzliches, einen Stoff, der ein besonderes Leuchten erzeugte, wenn er in einer Gasflamme erhitzt wurde. Eine solche Substanz war Kalziumoxid oder Kalk, der ein intensives grünweißes Licht ausstrahlte, wenn er erhitzt wurde. Dieses «Kalklicht» sei in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts entdeckt worden und jahrzehntelang als Bühnenbeleuchtung verwendet worden, so Onkel Dave. Deshalb spricht man in England noch heute von limelight , Kalklicht, wenn man das Rampenlicht meint, obwohl das Kalklicht schon lange nicht mehr zu Beleuchtungszwecken benutzt wird. Ein ähnlich strahlendes Licht kann man durch die Erhitzung zahlreicher anderer Erden erzeugen - Zirkonerde, Thorerde, Bittererde (Magnesiumoxid), Tonerde, Zinkoxid. («Nennt man es Zinkerde?», fragte ich. «Nein», antwortete Onkel lächelnd, «nicht dass ich wüsste.»)
Nachdem man viele Oxide durchprobiert hatte, erkannte man in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, dass einige Mischungen heller glühten als einzelne Oxide. Auer von Welsbach experimentierte in Deutschland mit zahllosen derartigen Kombinationen, bis er schließlich 1891 den idealen Stoff entdeckte: eine Mischung aus Thorerde und Zerdioxid im Verhältnis 99 zu 1. Das Mischungsverhältnis war von entscheidender Bedeutung: 100 zu l oder 98 zu l wirkte, wie Auer feststellte, weit weniger.
Bis dahin habe man Oxidstäbe oder -stifte verwendet, sagte Onkel, aber Auer habe herausgefunden, dass «ein Gewebe von geeigneter Form», ein Glühstrumpf aus Ramiefaser, eine weit größere Oberfläche bot, die mit dieser Mischung imprägniert werden und so helleres Licht liefern konnte. Diese Glühstrümpfe revolutionierten die gesamte Gasbeleuchtung und bildeten eine ernsthafte Konkurrenz zu der noch in den Kinderschuhen steckenden elektrischen Lichtindustrie.
Mein Onkel Abe, der einige Jahre älter war als Onkel Dave, konnte sich noch lebhaft an diese Entdeckung erinnern und beschrieb, wie sich das etwas schwach beleuchtete Elternhaus in der Leman Street unter dem Einfluss der neuen Glühstrümpfe plötzlich verwandelte. Er erinnerte sich auch an einen großen Thorium-Boom: In wenigen Wochen stieg der Thoriumpreis um das Zehnfache, und man begann fieberhaft nach neuen Vorkommen dieses Elements zu suchen.
Auch Edison in Amerika experimentierte als einer der Ersten mit der Glut seltener Erden, allerdings nicht mit dem gleichen Erfolg wie Auer, weshalb er seine Aufmerksamkeit Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts auf eine andere Lichtart, das elektrische Licht, richtete. In England hatten Swan und einige andere in den sechziger Jahren mit Platinlampen zu experimentieren begonnen (Onkel bewahrte eine dieser frühen Swan-Lampen in seiner Vitrine auf); der ehrgeizige Edison beteiligte sich an dem Wettrennen, stieß aber auf die gleichen Schwierigkeiten wie Swan: Der Schmelzpunkt von Platin war zwar hoch, aber nicht hoch genug.
Edison experimentierte mit vielen anderen Metallen, die höhere Schmelzpunkte haben, um einen brauchbaren Glühfaden zu erhalten, fand aber keinen passenden - bis ihm 1879 die zündende Idee kam: Kohlenstoff hatte einen wesentlich höheren Schmelzpunkt als jedes Metall - niemand hatte es bislang zum Schmelzen gebracht -, und obwohl es Elektrizität leitete, hatte es einen hohen Widerstand, der den
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