Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
Vom Netzwerk:
das man aus Scheelit gewonnen hatte, den gleichen Stoff, den Scheele und die d'Elhuyars, die Entdecker des Wolframs, isoliert hatten. [4] Ich nahm die Flasche in die Hand; sie enthielt ein dichtes gelbes Pulver, das überraschend schwer war, fast so schwer wie Eisen. «Wir müssen es nur mit ein bisschen Kohlenstoff in einem Tiegel erhitzen, bis es rotglühend wird.» Onkel mischte das gelbe Oxid mit dem Kohlenstoff und stellte den Tiegel in eine Ecke des riesigen Ofens. Nach ein paar Minuten holte er ihn mit langen Zangen heraus, und nach Abkühlung des Tiegels konnte ich sehen, dass sich eine aufregende Veränderung vollzogen hatte. Der Kohlenstoff war ebenso wie der größte Teil des gelben Pulvers verschwunden, und stattdessen lagen die Körner eines matt glänzenden grauen Metalls in dem Tiegel - wie bei den d'Elhuyars im Jahr 1783.
    «Es gibt noch eine andere Methode, um Wolfram herzustellen», sagte Onkel. «Die ist etwas spektakulärer.» Er mischte Wolframoxid mit feinem Aluminiumpulver und gab dann etwas Zucker, Kaliumperchlorat und Schwefelsäure darauf. Zucker, Perchlorat und Säure fingen sofort Feuer und entzündeten ihrerseits das Aluminium und das Wolframoxid, die heftig brannten und Schwärme leuchtender Funken aufsteigen ließen. Als sich der Funkenregen legte, sah ich ein weißglühendes Wolframkügelchen im Tiegel liegen. «Das ist eine der heftigsten Reaktionen, die es gibt», sagte Onkel, «man nennt es das Thermit-Verfahren; du hast gesehen, warum. Es kann Temperaturen von dreitausend Grad und mehr erzeugen - genug, um das Wolfram zu schmelzen. Ich habe, wie du vielleicht bemerkt hast, einen speziellen Tiegel benutzt, er ist mit Magnesia ausgekleidet, damit er die Temperatur aushalten kann. Das Ganze ist eine heikle Sache und kann dir leicht um die Ohren fliegen, wenn du nicht aufpasst. Im Krieg nutzten sie das Verfahren natürlich, um Brandbomben herzustellen. Doch unter den richtigen Bedingungen ist es eine herrliche Methode, mit der man auch die schwierigen Metalle gewonnen hat - Chrom, Molybdän, Wolfram, Titan, Zirkonium, Vanadium, Niob, Tantal.»
    Wir kratzten die Wolframkörner heraus, wuschen sie sorgfältig mit destilliertem Wasser, untersuchten sie unter einem Vergrößerungsglas und wogen sie. Onkel nahm einen winzigen, 0,5 Milliliter fassenden Messzylinder und füllte ihn bis zur 0,4-Milliliter-Marke mit Wasser, dann ließ er die Wolframkörner hineingleiten. Das Wasser stieg um einen zwanzigstel Milliliter. Ich schrieb die genauen Zahlen auf und rechnete aus - das Wolfram wog etwas weniger als ein Gramm und hatte eine Dichte von 19. «Das ist sehr gut», befand Onkel, «das entspricht weitgehend dem Ergebnis, zu dem auch die d'Elhuyars in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts gelangt sind.
    Jetzt habe ich hier verschiedene Metalle, alle in kleinen Körnchen. Was hältst du davon, wenn du sie zur Übung mal wiegst, ihr Volumen bestimmst und ihre Dichte berechnest?» Begeistert widmete ich die nächste Stunde diesen Aufgaben und stellte fest, dass Onkel mir tatsächlich eine Palette höchst unterschiedlicher Stoffe gegeben hatte. Sie reichte von einem Metall von etwas angelaufener Silberfarbe und einer Dichte von weniger als zwei bis zu einem dieser Osmiridiumkörnchen (ich erkannte sie wieder), die fast zwölfmal so dicht waren. Als ich die Dichte eines kleinen gelben Korns bestimmte, wies es exakt die Dichte von Wolfram auf - 19,3, um genau zu sein. «Siehst du», sagte Onkel, «Gold hat fast die gleiche Dichte wie Wolfram, aber Silber ist viel leichter. Der Unterschied zwischen reinem Gold und vergoldetem Silber lässt sich leicht merken - schwierig wäre das hingegen bei vergoldetem Wolfram.»
    Scheele gehörte zu Onkel Daves großen Helden. Er hatte nicht nur die Wolframsäure und die Molybdänsäure entdeckt (aus Letzterer wurde das neue Element Molybdän gewonnen), sondern auch Flusssäure, Schwefelwasserstoff, Arsenwasserstoff, Blausäure und noch ein Dutzend organischer Säuren. All das habe er ganz allein geleistet, so Onkel Wolfram, ohne Assistenten, ohne Forschungsgelder, ohne Lehrauftrag an einer Universität, ohne Gehalt. Er forschte allein und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Apotheker in einer kleinen schwedischen Provinzstadt. Er entdeckte den Sauerstoff, nicht durch einen glücklichen Zufall, sondern indem er ihn auf verschiedene Weise herstellte. Er fand das Chlor, und er schuf die Voraussetzungen für die Entdeckung von Mangan, Barium und einem

Weitere Kostenlose Bücher