Onkel Wolfram - Erinnerungen
Dutzend anderer Stoffe.
Scheele sei vollkommen in seiner Arbeit aufgegangen. Ruhm oder Geld bedeuteten ihm nichts, und er teilte sein Wissen, egal, worum es sich handelte, mit jedem, den es interessierte. Scheeles Großzügigkeit beeindruckte mich nicht weniger als sein wissenschaftlicher Einfallsreichtum; die Art und Weise, wie er die tatsächliche Entdeckung von Elementen (mehr oder weniger) seinen Studenten und Freunden überließ - die des Mangans Johan Gahn, die des Molybdäns Peter Hjelm und die Entdeckung des Wolframs, wie erwähnt, den Brüdern d'Elhuyar.
Scheele, so hieß es, habe auf dem Gebiet der Chemie nie etwas vergessen. Nie vergaß er, wie ein Stoff aussah, sich anfühlte, roch oder wie er sich bei chemischen Reaktionen verwandelte. Nichts, was er je über die Chemie gelesen oder gehört hatte, geriet bei ihm in Vergessenheit. Für die meisten anderen Dinge schien er gleichgültig, unempfänglich zu sein, ganz auf seine einzige, große Leidenschaft konzentriert - die Chemie. Diese reine und leidenschaftliche Hingabe an die Welt der Erscheinungen in der er alles registrierte und nichts vergaß - machte Scheeles besondere Stärke aus.
Für mich verkörperte dieser Forscher die Romanik der Wissenschaft. Ein solches Leben, das ganz der Wissenschaft, ganz dieser lebenslangen Liebe gewidmet war, schien mir eine eigene Reinheit und Tugend zu besitzen. Ich hatte mir nie viel Gedanken darüber gemacht, was sein würde, wenn ich «erwachsen» wäre - erwachsen zu werden, war kaum vorstellbar -, doch jetzt wusste ich: Ich wollte Chemiker sein. Ein Chemiker wie Scheele, ein Chemiker des 18. Jahrhunderts, der unvoreingenommen das ganze Feld beträte, der auf die gesamte unerkannte Welt der natürlichen Stoffe und Mineralien blickte, sie untersuchte, ihre Geheimnisse lüftete und die Wunder von unbekannten und neuen Metallen entdeckte.
KAPITEL FÜNF
LICHT FÜR DIE MASSEN
Onkel Wolfram war eine komplexe Mischung, zugleich intellektuell und praktisch veranlagt wie die meisten seiner Brüder und Schwestern und wie der Mann, der sie alle gezeugt hatte. Er liebte die Chemie, war aber kein «reiner» Chemiker wie sein jüngerer Bruder Mick. Onkel Dave war auch Unternehmer und Geschäftsmann. Er war ein Fabrikant, der von seinen Produkten recht gut lebte - seine Glühbirnen und Vakuumröhren fanden stets Abnehmer, und das genügte ihm. Zu seinen Mitarbeitern hatte er ein freundliches, persönliches Verhältnis. Er hatte nicht das Bedürfnis, zu expandieren, ein Riesenunternehmen aufzubauen, was ihm leicht möglich gewesen wäre. Er blieb, was er immer gewesen war, ein Liebhaber von Metallen und Substanzen, immer wieder fasziniert von ihren Eigenschaften. Er verbrachte endlose Stunden damit, die Arbeitsprozesse in seinen Betrieben zu beobachten: das Sintern des Wolframs und das Ziehen der Glühfäden, das Drehen der Doppelwendel und der Molybdänhalter für die Fäden, das Füllen der Glühlampen mit Argon in der alten Fabrik in Farringdon, das Blasen der Glaskolben und ihr Mattieren mit Flusssäure in seiner neuen Fabrik in Hoxton. Dabei hätte er sich solche Beobachtungen durchaus sparen können - seine Mitarbeiter verstanden ihr Geschäft und der Maschinenpark war gut in Schuss -, doch es machte ihm Freude, und manchmal kam ihm dabei eine Idee für weitere Verbesserungen und neue Verfahrensweisen. Eigentlich brauchte er die kleinen, dabei hervorragend ausgestatteten Labors in seinen Fabriken gar nicht, doch er war neugierig und liebte seine Experimente, von denen einige unmittelbar mit dem Herstellungsprozess zu tun hatten, viele jedoch, soweit ich es beurteilen konnte, nur seinem Spaß daran dienten. Auch wäre es nicht erforderlich gewesen, dass er, wie es der Fall war, die Geschichte der Glühlampe, der Beleuchtung im Allgemeinen und der zugrunde liegenden chemischen und physikalischen Sachverhalte in allen Einzelheiten kannte. Doch es gefiel ihm, sich als Teil einer Tradition wahrzunehmen - der Tradition von reiner Wissenschaft und zugleich angewandter Wissenschaft, Handwerk und Industrie.
Edisons Vision vom Licht für die Massen, so pflegte Onkel zu sagen, sei mit der Glühlampe endlich Wirklichkeit geworden. Wenn jemand aus dem Weltraum auf die Erde blickte und sähe, wie sie sich alle vierundzwanzig Stunden in den Nachtschatten drehte, könnte er jede Nacht Millionen, viele hundert Millionen Glühlampen aufleuchten sehen, die ihr Licht weißglühendem Wolfram verdankten - und würde wissen, dass es der
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