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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Alle frühen Experimentatoren hätten, so las ich, «die schreckliche Tortur einer Flusssäurevergiftung» erlitten, was für mindestens zwei von ihnen tödlich ausging. Fluor wurde erst 1886, nach fast hundert Jahren lebensgefährlicher Versuche, isoliert.
    Diese Geschichte faszinierte mich und weckte augenblicklich den Wunsch in mir, diesen Stoff selbst zu gewinnen. Flusssäure war leicht zu beschaffen: Onkel Wolfram verwendete sie in großen Mengen, um seine Glühlampen zu «mattieren», ich hatte sie in großen Korbflaschen in seiner Fabrik in Hoxton gesehen. Doch als ich meinen Eltern die Geschichte der Fluormärtyrer erzählte, verboten sie mir, damit im Haus zu experimentieren. (Ich entschloss mich zu einem Kompromiss, das heißt, ich stellte mir ein Guttaperchafläschchen mit Flusssäure ins Labor, hatte jedoch so viel Angst, dass ich die Flasche nicht öffnete.)
    Erst als ich später darüber nachdachte, staunte ich über die sorglose Art, in der Griffin (und andere in meinen Büchern) die Verwendung hochgiftiger Substanzen vorschlug. Ich hatte nicht die mindeste Schwierigkeit, mir Kaliumzyanid aus der Apotheke in unserer Straße zu besorgen - ein Mittel, das normalerweise zur Insektenvernichtung benutzt wurde -, doch ich hätte mich mit dem Zeug leicht selbst vernichten können. Im Laufe der Jahre trug ich eine Vielzahl von Chemikalien zusammen, mit denen ich die ganze Straße hätte kontaminieren oder in die Luft jagen können, zum Glück war ich vorsichtig - oder hatte Glück. [11]
    Wurde meine Nase im Labor von eher unangenehmen Gerüchen gereizt - dem stechenden Geruch von Ammoniak oder Schwefeldioxid, dem ekelhaften Gestank von Schwefelwasserstoff -, so wurde sie sehr viel freundlicher angesprochen durch den Garten draußen und die Küche drinnen mit ihrem Duft nach Lebensmitteln, Essenzen und Gewürzen. Woher bekam der Kaffee sein Aroma? Welche Duftstoffe enthielten die Gewürznelken, Äpfel, Rosen? Wie kamen Zwiebeln, Knoblauch und Radieschen zu ihrem durchdringenden Aroma? Welchem Umstand verdankte Gummi seine spezielle Nuance? Besonders mochte ich den Geruch von heißem Gummi, der für mich eine fast menschliche Note zu besitzen schien (wie ich später erfuhr, haben Gummi und Menschen das geruchsintensive Isopren gemeinsam). Warum bekamen Butter und Milch einen sauren Geruch und Geschmack, wenn sie bei warmem Wetter «schlecht» wurden? Was verlieh Terpentin seinen ansprechenden, harzigen Geruch? Neben allen diesen «natürlichen» Gerüchen gab es die von Alkohol und Azeton, die mein Vater in der Praxis verwendete, von Chloroform und Äther in der Geburtshilfetasche meiner Mutter. Da war der sanfte, angenehm medizinische Geruch von Jodoform, mit dem Verletzungen desinfiziert wurden, und der durchdringende Gestank der Karbolsäure, mit der man Toiletten desinfizierte (das Etikett der Flasche zierte ein Totenschädel mit zwei gekreuzten Knochen darunter).
    Wohlgerüche ließen sich offenbar aus allen Teilen einer Pflanze gewinnen - Blättern, Blütenblättern, Wurzeln, Rinde. Ich versuchte einige Aromen durch Dampfdestillation zu extrahieren, dazu sammelte ich Rosenblätter, Magnolienblüten und gemähtes Gras aus dem Garten und kochte sie in Wasser. Ihre Fruchtessenzen verflüchtigten sich im Dampf und setzten sich auf dem Destillat ab, wenn es abkühlte (dagegen sanken die schweren braunen Essenzen von Zwiebeln und Knoblauch bis auf den Grund). Entsprechend stellte ich aus Fett - Butterfett, Hühnerfett - einen Extrakt her, eine Pomade, oder ich verwendete Lösungsmittel wie Azeton oder Äther. Alles in allem waren meine Extraktionen nicht allzu erfolgreich, immerhin brachte ich ein brauchbares Lavendelwasser zustande und gewann mit Hilfe von Azeton Gewürznelken- und Zimtöl. Die erfolgreichsten Extraktionen verdankte ich meinen Besuchen in Hampstead Heath, wo ich große Taschen voll Kiefernholz sammelte und aus ihnen ein grünes Öl voller Terpene gewann, das angenehm und belebend wirkte - der Geruch erinnerte mich immer ein wenig an Friar's Balsam, den ich unter Dampf inhalieren musste, wenn ich eine Erkältung hatte.
    Ich liebte den Duft von Obst und Gemüse, an allem roch und schnüffelte ich, bevor ich es aß. Die Birnen aus unserem Garten kochte meine Mutter zu einem dicken Sirup ein, in dem sich der Geruch der Birnen noch zu verstärken schien. Doch das Aroma von Birnen, so hatte ich gelesen, ließ sich auch künstlich herstellen (es wurde beispielsweise bei der Zubereitung von Birnendrops

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