Onkel Wolfram - Erinnerungen
ich einige Jahre später Narrenreigen las, stellte ich mit Vergnügen fest, dass Aldous Huxley eine seiner weniger angenehmen Figuren Merkaptan genannt hatte.)
Bedachte ich all die übelriechenden Schwefelverbindungen und den scheußlichen Gestank der Selen- und Tellurverbindungen, gelangte ich zu dem Schluss, dass diese drei Elemente nicht nur eine chemische, sondern auch eine olfaktorische Stoffklasse bildeten. Für mich waren sie fortan nur noch die «Stinkogene».
Ein bisschen Schwefelwasserstoff hatte ich schon in Onkel Daves Labor gerochen - er roch nach verfaulten Eiern und Fürzen - und (wie man mir sagte) nach Vulkanen. Eine einfache Methode zu seiner Herstellung bestand darin, verdünnte Salzsäure auf Eisen(II)-Sulfid zu gießen. (Das Eisen [II]-Sulfid stellte ich in großen, klumpigen Mengen her, indem ich eine Mischung aus Eisen und Schwefel erhitzte, bis die beiden Stoffe glühten und sich verbanden.) Das Eisen(II)-Sulfid bildete Blasen, wenn ich die Salzsäure darübergoss, und sonderte augenblicklich eine große Menge von stinkendem, stickigem Schwefelwasserstoff ab. Ich stieß die Tür zum Garten auf und wankte hinaus. Als ich Übelkeit und ein merkwürdiges Gefühl verspürte, erinnerte ich mich, wie giftig das Gas war. Derweil gab das teuflische Sulfid (ich hatte große Mengen davon hergestellt) immer noch Wolken des giftigen Gases ab, die durch das ganze Haus zogen. Im Großen und Ganzen verhielten sich die Eltern erstaunlich tolerant gegenüber meinen Experimenten, aber nach diesem Vorfall bestanden sie auf dem Einbau eines Abzugschranks und verlangten, dass ich bei derartigen Versuchen in Zukunft die Reagenzien in kleineren Mengen verwendete.
Als die Luft moralisch und materiell wieder rein und der Abzugsschrank eingebaut war, beschloss ich, andere Gase herzustellen, einfache Verbindungen des Wassertoffs nicht mit Schwefel, sondern mit anderen Elementen. Da ich um die enge Verwandtschaft von Selen und Tellur mit Schwefel wusste, das heißt, um ihre Zugehörigkeit zur gleichen chemischen Gruppe, ging ich nach dem gleichen Grundschema vor: Ich verband Selen oder Tellur mit Eisen und behandelte dann das Eisen(II)-Selenid oder Eisen(II)-Tellurid mit Säure. Wenn schon der Gestank von Schwefelwasserstoff scheußlich war, der von Selenwasserstoff war noch hundertmal schlimmer - ein unbeschreiblich entsetzlicher, widerlicher, Ekel erregender Gestank, der bei mir Hustenanfälle und Tränen auslöste und mich an verfaulte Radieschen und Kohlköpfe erinnerte (damals hegte ich eine tief sitzende Abneigung gegen Weißkohl und Rosenkohl, weil es sie gekocht, verkocht , in Braefield überreichlich gegeben hatte). Selenwasserstoff hatte, so mein Eindruck, den scheußlichsten Geruch der Welt. Doch Tellurwasserstoff blieb nicht weit dahinter zurück, auch ein Höllengestank. Eine Hölle, die chemisch auf der Höhe sein wollte, müsste nicht nur Flüsse von feurigem Schwefel haben, sondern auch Seen von kochendem Selen und Tellur.
KAPITEL NEUN
HAUSBESUCHE
Gefühle und Nähe waren nicht die Sache meines Vaters, jedenfalls nicht im Kontext, in den Grenzen der Familie. Doch es gab Zeiten, kostbare Zeiten, da fühlte ich mich ihm nahe. In ganz frühen Erinnerungen sehe ich ihn in unserer Bibliothek lesen. Dann war er so konzentriert, dass nichts ihn stören konnte und alles, was außerhalb des Lichtkreises seiner Lampe lag, vollkommen ausgeblendet blieb. Meistens las er die Bibel oder den Talmud, obwohl er auch eine große Sammlung von hebräischen Büchern (er sprach fließend Hebräisch) und Judaika besaß - die Bibliothek eines Sprachforschers und Schriftgelehrten. Vielleicht war es sein Anblick, die völlige Versunkenheit in seine Lektüre, das Mienenspiel in seinem Gesicht, während er las (ein unwillkürliches Lächeln, eine Grimasse, ein Ausdruck der Verblüffung oder des Entzückens), was mich früh zum Lesen veranlasste, sodass ich mich schon vor dem Krieg manchmal mit einem eigenen Buch zu ihm in die Bibliothek gesellte, in einem tiefen, unausgesprochenen Gefühl der Gemeinsamkeit.
Wenn mein Vater am Abend keine Hausbesuche mehr machen musste, widmete er sich nach dem Dinner genüsslich einer großen, torpedoförmigen Zigarre. Liebevoll massierte er sie, führte sie an die Nase, um ihr Aroma und ihre Frische zu prüfen, und wenn alles zu seiner Zufriedenheit gereichte, machte er an einem Ende mit seinem Zigarrenschneider einen V-förmigen Einschnitt. Mit einem langen Streichholz zündete er sie
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