Onkel Wolfram - Erinnerungen
regelmäßig in ihrem hohen, brokatgeschmückten Zimmer in der Elgin Avenue. Sie setzte mir Käsekuchen, manchmal auch Fischkuchen, und ein kleines Glas süßen Wein vor, während ich ihren Erinnerungen an die alte Heimat lauschte. Mein Vater war erst drei oder vier, als die Familie fortzog, und hatte keine Erinnerungen mehr an diese Zeit, doch Lina, die damals achtzehn oder neunzehn war, wusste lebendig und faszinierend von Joniski zu erzählen, vom Schtetl bei Wilna, wo sie alle geboren wurden, und von ihren Eltern, meinen Großeltern, die damals noch verhältnismäßig jung gewesen waren. Mag sein, dass ich ihr als der Jüngste besonders am Herzen lag oder weil ich den gleichen Namen trug wie ihr Vater - Eli Velva, Oliver Wolf. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass sie sich allein fühlte und deshalb über die Besuche ihres jungen Neffen freute.
Außerdem gab es noch einen Bruder meines Vaters, Bennie. Er war exkommuniziert, aus dem Schoße der Familie ausgestoßen worden, nachdem er sich mit neunzehn nach Portugal aufgemacht und eine Nichtjüdin, eine Schickse, geheiratet hatte. Das war in den Augen der Familie ein so ungeheuerliches, so verwerfliches Verbrechen, dass sein Name fortan nicht mehr erwähnt wurde. Aber ich wusste, dass da etwas totgeschwiegen wurde, irgendein finsteres Familiengeheimnis; hin und wieder gab es ein ertapptes Verstummen, eine gewisse Verlegenheit, wenn meine Eltern flüsterten und ich hinzukam, und einmal bemerkte ich ein Foto von Bennie auf einem von Linas geschnitzten Schränken (sie sagte, es sei jemand anderes, aber ich bemerkte das Zögern in ihrer Stimme).
Mein Vater, der, wie erwähnt, schon immer ziemlich schwer und massig war, begann nach dem Krieg noch zuzunehmen und beschloss, in regelmäßigen Abständen eine Gesundheitsfarm in Wales aufzusuchen, um abzunehmen. Diese Kuren schienen nie viel an seinem Gewicht zu verändern, doch wenn er zurückkam, sah er zufrieden und wohl aus, und seine Londoner Blässe war einer gesunden Bräune gewichen. Erst nach seinem Tod, viele Jahre später, stieß ich bei Durchsicht seiner Papiere auf einen Stoß Flugzeugtickets, die mir die wahre Geschichte verrieten er war nie auf jener Diätfarm gewesen, sondern hatte in all diesen Jahren treu und heimlich Bennie in Portugal besucht.
KAPITEL ZEHN
EINE CHEMISCHE SPRACHE
Die Naturwissenschaft verstand Onkel Dave nicht nur als ein geistiges und technisches Tun, sondern als eine den ganzen Menschen umfassende Beschäftigung, daher war es für mich ganz natürlich, die Sache ebenso zu sehen. Als ich mein Labor einrichtete und eigene Experimente durchzuführen begann, wollte ich mehr über die Geschichte der Chemie wissen, herausfinden, was Chemiker taten, wie sie dachten, wie die Atmosphäre in früheren Jahrhunderten gewesen war. Mich faszinierte seit jeher unsere Familie und der verzweigte Familienstammbaum - die Geschichten der Onkel, die nach Südafrika gegangen waren, oder des Mannes, der sie alle gezeugt hatte. Der erste Vorfahr mütterlicherseits, von dem es Kunde gab, sei ein Rabbi mit alchimistischen Neigungen gewesen, hieß es, ein gewisser Lazar Weiskopf, der im 17. Jahrhundert in Lübeck gelebt habe. Vielleicht gab dies den Anstoß zu einem gründlicheren Geschichtsinteresse, möglicherweise auch zu der Neigung, sie aus familiärem Blickwinkel zu sehen. So wurden die Wissenschaftler, die frühen Chemiker, von denen ich las, in gewissem Sinn zu Vorfahren ehrenhalber, zu Menschen, mit denen ich in einer Art imaginären Verbindung stand. Ich musste verstehen, wie diese frühen Chemiker dachten, um mich in ihre Welt hineinzuphantasieren.
Als echte Wissenschaft, so las ich, wurde die Chemie Mitte des 17. Jahrhunderts von Robert Boyle aus der Taufe gehoben. Zwanzig Jahre älter als Newton, wurde Boyle in einer Zeit geboren, die noch von der Alchimie geprägt war, so bewahrte er neben seinen wissenschaftlichen noch eine Vielzahl alchimistischer Überzeugungen und Praktiken. Er glaubte, dass man Gold herstellen könne, ja, dass es ihm sogar schon gelungen sei (Newton, ebenfalls ein Alchimist, riet ihm, nichts darüber verlauten zu lassen). Boyle war ein Mann von maßloser Neugier (von «heiliger Neugier», um mit Einstein zu sprechen), denn alle Wunder der Natur kündeten ihm von der Herrlichkeit Gottes. Es bewog ihn, eine Vielzahl von Erscheinungen zu untersuchen.
Er untersuchte Kristalle und ihre Struktur und entdeckte als Erster ihre Spaltungsebenen. Er analysierte Farben und schrieb
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