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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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betrat die Küche. Er aß für sein Leben gern und kannte sich in den Kühlschränken aller seiner Patienten aus - die Familien schienen Freude daran zu haben, den guten Doktor zu beköstigen. Die Patienten zu untersuchen, die Angehörigen kennen zu lernen, die Besuche zu genießen, zu essen - all das gehörte untrennbar zu der Medizin, die er praktizierte.
    Durch die sonntäglich ausgestorbene City zu fahren bedeutete im Jahr 1946 eine ernüchternde Erfahrung, denn die Wunden, die die Bombenangriffe der Stadt geschlagen hatten, waren noch frisch. Der Wiederaufbau hatte kaum begonnen. Dies galt ganz besonders für das Eastend, wo vielleicht ein Fünftel der Bausubstanz dem Erdboden gleichgemacht worden war. Doch es gab noch immer eine sehr lebendige jüdische Gemeinde dort mit Restaurants, mit Feinkostgeschäften, wie man sie sonst nirgends auf der Welt fand. Mein Vater hatte seine Facharztausbildung am London Hospital in der Whitechapel Road absolviert und war als junger Mann zehn Jahre lang der jiddisch sprechende Arzt des jiddisch sprechenden Viertels gewesen. An diese Zeit erinnerte er sich besonders gern. Manchmal besuchten wir seine alte Praxis in der New Road - wo alle meine Brüder geboren worden waren und jetzt sein Neffe Neville praktizierte, der ebenfalls Arzt war.
    Wir schlenderten die «Lane» entlang, den Abschnitt der Petticoat Lane zwischen Middlesex Street und Commercial Street, wo die Händler ihre Stände aufschlugen. Meine Eltern hatten das Eastend 1930 verlassen, doch mein Vater kannte noch immer viele Händler mit Namen. Wenn er mit ihnen plauderte, wieder ins Jiddisch seiner Jugend verfiel, wurde mein alter Vater (was heißt hier «alt»? Ich bin heute fünfzehn Jahre älter als er damals mit seinen fünfzig Jahren) wieder jugendlich, jungenhaft, und zum Vorschein kam ein früheres, lebendigeres Selbst, als ich es für gewöhnlich kannte.
    In der Lane suchten wir stets Marks auf, dort konnte man Latkes (Pfannkuchen) für Sixpence das Stück kaufen und den besten geräucherten Lachs und Hering von ganz London bekommen. Der Lachs zerging so unglaublich zart auf der Zunge, dass er zu den wenigen wirklich paradiesischen Erfahrungen gehörte, die auf dieser Erde zu haben sind.
    Mein Vater verfügte immer über einen sehr gesunden Appetit, daher waren die Strudel und Heringe, die er bei seinen Patienten bekam, und die Latkes, die wir bei Marks erstanden, für ihn nur ein Vorspiel der richtigen Mahlzeit. Im Umkreis von wenigen Blocks gab es ein Dutzend ausgezeichneter koscherer Restaurants, jedes mit seinen eigenen unvergleichlichen Spezialitäten. Wofür sollte man sich entscheiden? Bloom's in Aldgate, Ostwind's, wo einen die wunderbaren Düfte aus der Bäckerei im Keller umspielten, oder Strongwater's, wo es eine besondere Art von Kreplachs gab, die Varenikas , die sich bei meinem Vater schon zu einer gefährlichen Sucht ausgewachsen hatten? Gewöhnlich landete er jedoch im Silberstein's, wo es neben dem Fleischrestaurant im Erdgeschoss noch ein Dairy Restaurant im ersten Stock gab, dort bekam man wunderbare Milchsuppen und Fischgerichte. Besonders für Karpfen hatte mein Vater eine Schwäche. Geräuschvoll und mit großem Behagen lutschte er den Fischen die Köpfe aus.
    Pop war auf dem Weg zu seinen Hausbesuchen ein ruhiger, unerschütterlicher Autofahrer. Damals hatte er einen behäbigen, ziemlich langsamen Wolseley, durchaus passend zur Benzinrationierung, die damals noch in Kraft war - doch vor dem Krieg sah die Sache anders aus, da fuhr er ein amerikanisches Auto, einen Chrysler, ein äußerst sportliches und für die dreißiger Jahre ungewöhnlich schnelles Gefährt. Außerdem besaß er ein Motorrad, eine Scott Flying Squirrel, mit einem wassergekühlten 600-Kubik-Zweitakter und einem Auspuff, dessen Gebrüll durch Mark und Bein ging. Fast dreißig Pferdestärken brachte die Maschine auf die Straße - sie hatte, wie er gern sagte, mehr Ähnlichkeit mit einem fliegenden Pferd (als mit einem flying squirrel , einem fliegenden Eichhörnchen). An freien Sonntagen setzte er sich morgens auf dieses Zweirad, überließ sich Fahrtwind und Straße, schüttelte die Stadt ab und vergaß Praxis und Beruf eine Zeit lang. Manchmal träumte ich davon, selbst auf dem Motorrad zu fahren oder zu fliegen, und ich war entschlossen, mir selbst eines zuzulegen, wenn ich groß war.
    Als 1955 Unter dem Prägstock von T. E. Lawrence erschien, las ich meinem Vater daraus «Die Straße» vor, Zeilen von Lawrence über

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