Onkel Wolfram - Erinnerungen
siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts wuchs Lavoisier heran nüchtern, äußerst analytisch und logisch, ein Kind der Aufklärung und ein Bewunderer der Enzyklopädisten. Mit fünfundzwanzig Jahren hatte Lavoisier bereits Bahnbrechendes auf dem Gebiet der Geologie geleistet, seine außergewöhnlichen chemischen und polemischen Talente unter Beweis gestellt (mit einem Essay über die besten Methoden, eine nächtliche Großstadt zu beleuchten, und einer Untersuchung über das Ansetzen und Abbinden von gebranntem Gips hatte er Preise gewonnen) und war in die Akademie gewählt worden. [14] Doch in erster Linie richteten sich seine Verstandeskraft und sein Ehrgeiz auf die Auseinandersetzung mit der Phlogistontheorie. Die Phlogistonidee erschien ihm als metaphysisch und jeder Grundlage entbehrend. Am leichtesten ließe sie sich aushebeln, das erkannte er sofort, durch sorgfaltige quantitative Verbrennungsversuche. Büßten Stoffe tatsächlich an Gewicht ein, wenn sie verbrannt wurden, wovon auszugehen wäre, wenn sie ihr Phlogiston verlören? Die Alltagserfahrung schien tatsächlich darauf schließen zu lassen, dass Stoffe «wegbrannten» - eine brennende Kerze wurde kleiner, organische Substanzen verkohlten und schrumpften, Schwefel und Holzkohle verschwanden vollkommen, doch beim Verbrennen von Metallen schien es sich anders zu verhalten.
1772 las Lavoisier von den Experimenten des Guyton de Morveau. Der hatte in Versuchen von außergewöhnlicher Genauigkeit und Sorgfalt nachgewiesen, dass das Gewicht von Metallen zunahm , wenn man sie an der Luft verbrannte. [15] Wie ließ sich dies mit der Vorstellung vereinbaren, dass irgendetwas - Phlogiston - beim Verbrennen verloren ging? Lavoisier hielt Guytons Erklärung - wonach Phlogiston eine «Leichtigkeit» besitze und die Metalle, in denen es enthalten sei, mit Auftrieb versorge - für absurd. Trotzdem bedeuteten Guytons wunderbar präzise Ergebnisse eine unvergleichliche Herausforderung für Lavoisier. Sie entsprachen Newtons Apfel - Tatsachen, Phänomene, die nach einer neuen Theorie der Welt verlangten.
Die vor ihm liegende Arbeit «schien mir dazu bestimmt, in der Physik und Chemie eine Revolution zu bewirken. Ich vermochte alles, was vor mir geleistet worden war, nur als Anregung zu begreifen… wie isolierte Glieder einer großen Kette.» Es musste jemand kommen - er -, der alle Glieder dieser Kette «durch eine ungeheure Reihe von Experimenten verband,… um ein in sich geschlossenes Ganzes zu bilden» und eine Theorie zu entwerfen. Während Lavoisier diesen grandiosen Gedanken seinem Labornotizbuch anvertraute, setzte er zu systematischen Experimenten an, in denen er viele Versuche seiner Vorgänger wiederholte, dabei jedoch eine geschlossene Vorrichtung verwendete und alles vor und nach der Reaktion sorgsam wog, etwas, was Boyle und selbst die sorgsamsten Chemiker seiner Zeit versäumt hatten. Indem er Blei und Zinn in einer geschlossenen Retorte erhitzte, bis sie sich zu Asche verwandelt hatten, konnte er zeigen, dass das Gesamtgewicht der reagierenden Teile während der Reaktion weder zu- noch abnahm. Erst wenn er seine Retorten öffnete und Luft hineinließ, nahm das Gewicht der Asche zu - und zwar genau um den Betrag, um den die Metalle selbst bei der Verkalkung schwerer geworden waren. Diese Gewichtszunahme musste nach Lavoisiers Ansicht mit der «Fixierung» der Luft oder eines Teils von ihr zu tun haben.
Im Sommer 1774 fand Joseph Priestley in England heraus, dass roter Quecksilberkalk (Quecksilberoxid) bei Erwärmung eine «Luft» abgab, die zu seiner Verblüffung noch stärker oder reiner zu sein schien als gewöhnliche Luft:
Eine Kerze brannte in dieser Luft mit einer erstaunlich kraftvollen Flamme, und ein kleines Stück rotglühendes Holz knisterte und verglühte mit atemberaubender Geschwindigkeit, wobei es in seinem Erscheinungsbild Eisen in Weißglut glich und Funken in alle Richtungen sprühen ließ.
Fasziniert ging Priestley dem Phänomen nach und fand heraus, dass Mäuse in dieser Luft fünfmal länger lebten als in normaler Luft. Völlig von der Unschädlichkeit seiner neuen «Luft» überzeugt, probierte er sie am eigenen Leibe aus:
Ich empfand sie in meiner Lunge nicht spürbar anders als gewöhnliche Luft, hatte aber doch das Gefühl, meine Brust atme noch einige Zeit danach besonders leicht und mühelos. Wer weiß, vielleicht wird diese reine Luft noch einmal ein begehrter Luxusartikel. Bislang hatten nur zwei Mäuse und ich das
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