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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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sein Motorrad (zu der Zeit hatte ich schon selber eines, eine Norton):
    Ein ungebärdiges Motorrad mit ein bisschen Leben drin ist besser als alle Reittiere der Welt, denn es bildet die logische Erweiterung unserer eigenen Möglichkeiten und ist durch seine honigsüße, unermüdliche Bereitwilligung immer ein Ansporn, eine Herausforderung zum Übertreiben.
    Vater lächelte und nickte zustimmend, als er an seine eigene Biker-Zeit zurückdachte.
    Ursprünglich hatte Vater mit dem Gedanken gespielt, eine wissenschaftliche Laufbahn als Neurologe einzuschlagen. Er arbeitete (zusammen mit Jonathan Millers Vater) als Assistenzarzt am London Hospital bei Sir Henry Head, dem berühmten Neurologen. Noch im Vollbesitz seiner Kräfte hatte Head damals selbst Parkinson bekommen. Die Krankheit bewirkte gelegentlich, dass er gegen seinen Willen, wie mein Vater erzählte, die alte neurologische Station in ganzer Länge entlangzulaufen hatte - zu trippeln -, sodass er von einem seiner eigenen Patienten aufgehalten werden musste. Als ich mir das nicht vorstellen konnte, ahmte mein Vater, der über ein ausgeprägtes mimisches Talent verfügte, Heads Trippelgang nach und eilte in immer rascherem Tempo die Exeter Road entlang, wobei ich kaum mit ihm Schritt halten konnte. Mein Vater glaubte, durch das eigene Leiden sei Head einfühlsamer für die Beeinträchtigungen seiner Patienten geworden. Und ich glaube, die Nachahmungen meines Vaters ob Asthma, Krämpfe, Lähmungen oder sonst etwas -, die er seiner Fähigkeit verdankte, sich in andere hineinzuversetzen, leisteten ihm ähnliche Dienste.
    Als es Zeit wurde, eine eigene Praxis zu eröffnen, beschloss mein Vater, sich trotz seiner neurologischen Ausbildung als Allgemeinmediziner niederzulassen. Er glaubte, als praktischer Arzt würde seine Tätigkeit wirklicher, «lebensnäher» sein. Vielleicht bekam er mehr Lebensnähe zu spüren, als er es sich erhofft hatte, denn im September 1918, als er seine Praxis im Eastend eröffnete, setzte gerade die große Grippeepidemie ein. Als Assistenzarzt am London Hospital hatte er verwundete Soldaten erlebt, doch das war nichts im Vergleich zu den Schrecken, die ihn jetzt erwarteten: Die Menschen erlitten entsetzliche Hustenanfälle, rangen nach Luft, erstickten an der Flüssigkeit in ihren Lungen, liefen auf der Straße blau an und fielen tot um. Es hieß, die Krankheit könne einen gesunden jungen Erwachsenen innerhalb von drei Stunden nach Ausbruch töten. In jenen drei schrecklichen Monaten Ende 1918 brachte die Grippe mehr Menschen um als der Weltkrieg. Mein Vater war, wie jeder Arzt damals, völlig überlastet und manchmal achtundvierzig Stunden ununterbrochen auf den Beinen.
    Er bat dann seine Schwester Alida - eine junge Witwe, die drei Jahre zuvor mit zwei Kindern aus Südafrika zurückgekehrt war -, ihm zu helfen. Etwa zur gleichen Zeit holte er Yitzchak Eban, einen jungen Kollegen, zur Unterstützung in seine Praxis.
    Yitzchak war in Joniski geboren worden, demselben kleinen litauischen Dorf, in dem die Sacks-Familie gelebt hatte. Alida und Yitzchak hatten als Kleinkinder miteinander gespielt, doch 1895 war seine Familie nach Schottland gegangen, ein paar Jahre bevor die Sacks' nach London übersiedelten. Als sich Alida und Yitzchak zwanzig Jahre später hier wiedersahen und in der fieberhaften, überreizten Atmosphäre der Epidemie zusammen arbeiteten, verliebten sie sich ineinander und heirateten im Jahr 1920.
    Als Kinder hatten wir relativ wenig Kontakt zu Tante Alida (obwohl ich sie für die hellste und aufgeweckteste meiner Tanten hielt - sie hatte ganz unvermittelte Einfälle und Eingebungen, die, wie ich fand, typisch für die «Sacks'sche Geistesart» waren, im Gegensatz zur methodischen, analytischen Denkweise der Landaus). Dagegen war Tante Lina, die älteste Schwester meines Vaters, ständig zugegen. Sie war fünfzehn Jahre älter als Pop, eine winzige Person - einen Meter fünfundvierzig in hochhackigen Schuhen -, aber von eisernem Willen und rücksichtsloser Entschlossenheit. Sie hatte goldgelb gefärbtes Haar, spröde wie Puppenhaar, und verströmte einen Körpergeruch in der Mischung von Knoblauch, Schweiß und Patschuli. Lina hatte, wie erwähnt, unser Haus möbliert und versorgte uns in Nummer 37 häufig mit Spezialitäten nach eigenem Rezept - Fischkuchen (weshalb Marcus und David sie Fishcake oder manchmal auch Fishface, Fischgesicht nannten), schwere krümelige Käsekuchen oder zum Passahfest Matzenknödel von einer

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