Onkel Wolfram - Erinnerungen
unglaublichen, tellurischen Dichte, die wie Steine auf den Grund der Suppe sanken. Ohne Rücksicht auf irgendwelche Anstandsregeln beugte sie sich zu Hause bei Tisch hinab und schnauzte sich die Nase im Tischtuch. Dessen ungeachtet war sie in Gesellschaft bezaubernd, strahlend und kokett, hörte aber auch aufmerksam zu und machte sich ein klares, unbestechliches Bild vom Charakter und den Beweggründen der Anwesenden. Waren ihre Gesprächspartner nicht auf der Hut, entlockte sie ihnen Geständnisse und behielt mit ihrem teuflischen Gedächtnis alles, was man ihr anvertraut hatte. [12]
Doch ihre Rücksichtslosigkeit und Skrupellosigkeit dienten einem edlen Zweck, denn sie setzte sie ein, um Geld für die Hebräische Universität in Jerusalem zu sammeln. Manchmal malte ich mir aus, sie hätte Dossiers über jede wichtige Persönlichkeit in England und griffe bei hinreichender Gewissheit in Bezug auf Informationen und Quellen zum Telefon. «Lord G.? Hier ist Lina Halper.» Daraufhin eine Pause, dann ein Aufstöhnen. Lord G. wusste, was ihn erwartete. «Ja», fuhr sie fröhlich fort, «aber ja, Sie kennen mich. Es gibt da so eine Angelegenheit - nein, nein, ersparen wir uns die Einzelheiten. Ich meine die kleine Geschichte in Bognor, im März 23… Nein, natürlich werde ich nicht darüber reden. Sie bleibt unser kleines Geheimnis. Was darf ich für Sie eintragen? Vielleicht fünfzigtausend? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was dies für die Hebräische Universität bedeuten würde.» Mit Erpressungen dieser Art brachte Lina mehrere Millionen Pfund zusammen, und wahrscheinlich war sie die erfolgreichste Geldbeschafferin, die die Hebräische Universität je hatte.
Lina, mit Abstand die Älteste, war für ihre jüngeren Geschwister eine «kleine Mutter», als die Familie 1899 von Litauen nach England auswanderte. Nach dem frühen Tod ihres Mannes erhob sie in gewisser Weise Anspruch auf meinen Vater und wetteiferte mit meiner Mutter um seine Gesellschaft und Gunst. Mir war die Spannung, die unausgesprochene Rivalität zwischen den beiden stets bewusst, und auch die Situation meines Vaters - er war nachgiebig, passiv und unentschlossen und wurde hin und her gerissen zwischen ihnen.
Während viele Familienmitglieder Lina für eine Art Monster hielten, hegte sie eine Schwäche für mich und ich für sie. Besonders wichtig wurde sie für mich - vielleicht für uns alle - zu Beginn des Krieges. Wir waren nämlich bei Kriegseintritt für die Sommerferien in Bournemouth, und als Ärzte mussten unsere Eltern sofort nach London aufbrechen, während wir vier in der Obhut unseres Kindermädchens zurückblieben. Bei ihrer Rückkehr zwei Wochen später war meine - unsere – Erleichterung grenzenlos. Ich weiß noch, dass ich den Gartenweg hinunterstürzte, als ich die Hupe ihres Autos hörte, und mich buchstäblich in die Arme meiner Mutter warf, so heftig, dass sie fast umfiel. «Ich habe dich vermisst», weinte ich, «ich habe dich so sehr vermisst.» Sie hielt mich lange und fest in ihren Armen, und plötzlich schwand das Gefühl des Verlustes, der Angst. Unsere Eltern versprachen, sehr bald zurückzukommen, möglicherweise schon am nächsten Wochenende, doch in London gab es viel für sie zu tun - meine Mutter kümmerte sich um die Notfallchirurgie und mein Vater organisierte die praktischen Ärzte des Viertels für die medizinische Versorgung bei Luftangriffen. Am nächsten Wochenende kamen sie nicht. Eine weitere Woche verging, noch eine und noch eine, und dann, glaube ich, zerbrach irgendetwas in meinem Inneren, denn als sie sechs Wochen nach ihrem ersten Besuch wieder kamen, lief ich meiner Mutter nicht entgegen, um sie wie beim ersten Mal zu umarmen, sondern begegnete ihr kalt und unpersönlich, als sei sie eine Fremde. Darüber war sie wohl erschrocken und bestürzt, doch wusste sie nicht, wie sie den Graben, der sich zwischen uns aufgetan hatte, überbrücken sollte.
Als die Auswirkungen der elterlichen Abwesenheit unübersehbar wurden, erschien Lina auf der Bildfläche, übernahm das Haus, kochte, organisierte unseren Alltag, wurde eine kleine Mutter für uns alle und füllte die Lücke, die durch die Abwesenheit entstanden war.
Dieses kleine Zwischenspiel dauerte nicht lange - Marcus und David setzten ihr Medizinstudium fort, während Michael und ich in Braefield untergebracht wurden. Doch ich werde nie vergessen, wie liebevoll sich Lina in dieser Zeit um mich gekümmert hat. Nach dem Krieg besuchte ich sie in London
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