Onkel Wolfram - Erinnerungen
Klo.
Diese Treffen schienen meine Eltern arg mitzunehmen - jedes Mal sahen sie hinterher bleich und erschöpft aus -, trotzdem fühlten sie sich verpflichtet, sie auszurichten. Ich hörte nie, dass sie sich untereinander über Palästina oder den Zionismus unterhielten, daher nahm ich an, dass sie das Thema nicht besonders interessierte, jedenfalls nicht bis Kriegsende, als die Schrecken des Holocaust sie zu der Überzeugung brachten, man müsse eine «nationale Heimat» schaffen. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich von den Organisatoren dieser Versammlungen unter Druck setzen ließen und auch den erpresserischen Evangelisten gegenüber viel zu nachgiebig waren, die an die Haustür pochten und für die Yeshivas , die «Schulen in Israel», große Summen verlangten. Meine Eltern, die in fast jeder Hinsicht klar und unabhängig dachten, schienen angesichts dieser Forderungen weich und hilflos zu werden, vielleicht aus einem Gefühl der Pflicht oder Ängstlichkeit heraus. Meine eigenen Gefühle (die ich nie mit ihnen diskutierte) waren entschieden negativ: Ich entwickelte eine starke Abneigung gegen Zionismus, Evangelismus und Politisiererei jeder Art, da sie mir laut, lästig und zudringlich vorkamen. Stattdessen sehnte ich mich nach dem ruhigen Diskurs und der Vernunft der Wissenschaft.
In ihrer religiösen Praxis waren meine Eltern gemäßigt orthodox (obwohl ich mich kaum daran erinnern kann, dass sie jemals über die Dinge sprachen, an die sie wirklich glaubten), während einige unserer Verwandten extrem orthodox waren. Man erzählte, der Vater meiner Mutter sei nachts aufgewacht, wenn ihm seine Jarmulke heruntergefallen sei, und der Vater meines Vaters soll noch nicht einmal ohne sie zum Schwimmen gegangen sein. Einige meiner Tanten trugen Sheitl - Perücken -, die ihnen ein merkwürdig jugendliches, puppenhaftes Aussehen verliehen: Ida hatte eine buttergelbe und Gisela eine rabenschwarze und sie veränderten sich nicht im Mindesten, selbst als sich viele Jahre später mein eigenes Haar grau zu färben begann.
Annie, die älteste Schwester meiner Mutter, war in den neunziger Jahren nach Palästina gegangen und hatte in Jerusalem eine Schule gegründet, eine Schule «für englische Damen mosaischen Glaubens». Annie war eine Frau von bestimmendem Wesen und außerordentlich orthodox. Vermutlich glaubte sie, mit Gott auf äußerst vertrautem Fuße zu stehen (wie sie es in Jerusalem mit dem Oberrabbiner, dem Mandat und dem Mufti tat). [38] In regelmäßigen Abständen kam sie nach England, begleitet von so riesigen Schrankkoffern, dass zu ihrer Beförderung sechs Träger erforderlich waren. Annie brachte eine Atmosphäre einschüchternder religiöser Strenge ins Haus - meine Eltern, die weniger orthodox waren, scheuten ihre tadelnden Blicke.
Einmal - an einem schwülen Samstag im politisch angespannten Sommer des Jahres 1939 - fuhr ich mit meinem Dreirad die Exeter Road in der Nähe unseres Hauses auf und ab, als ein plötzlicher Wolkenbruch niederging und ich völlig durchnässt wurde. Annie hob mahnend den Finger und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf: «Am Schabbes Dreirad fahren! Das kann nicht ungestraft bleiben», sagte sie. «Er sieht alles, er beobachtet dich die ganze Zeit!» Fortan hatte ich etwas gegen Samstage und auch gegen Gott (zumindest den rachsüchtigen, strafenden Gott, den Annie mit ihrer Warnung angerufen hatte). Ich hatte an Samstagen das unangenehme, ängstliche Gefühl, beobachtet zu werden (ein Gefühl, das sich ansatzweise bis heute gehalten hat).
Im Allgemeinen - jener Samstag war eine Ausnahme - ging ich mit der Familie zur Schul, der geräumigen Synagoge in der Wahn Lane, deren Gemeinde damals mehr als zweitausend Mitglieder umfasste. Wir wurden alle so lange geschrubbt, bis wir vor Sauberkeit glänzten, und in unser «Sonntagszeug» gekleidet. Anschließend ging es im Gänsemarsch hinter unseren Eltern die Exeter Road entlang. Meine Mutter stieg mit mehreren Tanten zur Frauengalerie empor. Als ich noch ganz klein war, drei oder noch nicht einmal drei Jahre alt, ging ich mit ihr hinauf, doch als «großer» Junge von sechs musste ich unten bei den Männern bleiben (wo ich verstohlene Blicke zu den Frauen nach oben warf und gelegentlich auch zu winken versuchte, was streng verboten war).
Mein Vater war sehr bekannt in der Gemeinde - die Hälfte der Mitglieder waren seine Patienten oder die meiner Mutter und stand in dem Ruf, eine Stütze der Gemeinde und ein gelehrter Mann zu sein,
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