Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
Vom Netzwerk:
obwohl seine Gelehrsamkeit, wie er mir sagte, nichts im Vergleich zu der von Wilensky auf der anderen Seite des Gangs sei. Der kenne jedes Wort im Talmud so genau auswendig, dass er sagen könne, welcher Satz auf jeder Seite von einer Nadel getroffen werde, die man in den Talmud steche.
    Wilensky folgte nicht dem Gottesdienst, sondern irgendeinem inneren Programm, einer eigenen Liturgie, wobei er vor und zurück schwankte, während er seine eigenen Gebete aufsagte. Er hatte lange Pajess - Schläfenlocken -, die ihm am Gesicht herabhingen. Ehrfürchtig bestaunte ich ihn, für mich war er eine übermenschliche Erscheinung.
    An den Samstagmorgenden wurde der Gottesdienst sehr lang, selbst bei hohem Tempo dauerten die Gebete mindestens drei Stunden - und das Gebet war gelegentlich unglaublich schnell. Ein stummes Gebet, die Amidah oder das Achtzehn-Gebet, musste stehend, mit dem Gesicht gen Jerusalem aufgesagt werden. Ich vermute, es war zehntausend Wörter lang, aber die Schnellsten in der Schul schafften es in glatten drei Minuten. Ich las, soviel ich konnte (mit häufigen Blicken in Richtung der Übersetzung auf der gegenüberliegenden Seite, um zu sehen, was das alles bedeutete), aber ich schaffte kaum mehr als einen oder zwei Absätze, bevor die Zeit vorüber war und sich der Gottesdienst dem nächsten Punkt näherte. Meistens versuchte ich gar nicht, Schritt zu halten, sondern blätterte nach eigenem Gutdünken im Gebetbuch. Auf diese Weise erfuhr ich von Myrrhe und Weihrauch und den Gewichten und Maßen, die vor dreitausend Jahren im Land Israel verwendet wurden. Es gab viele Abschnitte, die mich ansprachen mit ihrer opulenten Sprache, ihrer Schönheit, ihrem poetischen und mythischen Charakter, in denen die Gerüche und Gewürze verschiedener Opfer in allen Einzelheiten geschildert wurden. Augenscheinlich hatte Gott eine feine Nase. [39]
    Ich mochte den Gesang, den Chor, in dem Cousin Dennis sang und der von Onkel Moss geleitet wurde, den virtuosen Vortrag des Chasans , des Kantors, manchmal auch die heftigen Predigten des Rabbiners und hin und wieder das Gefühl, mit allen anderen Teil einer großen Gemeinschaft zu sein. Doch im Großen und Ganzen bedrückte mich die Synagoge; die Religion erschien mir zu Hause weit realer und unendlich viel angenehmer. Ich liebte Passah und seine Vorbereitungen (wenn wir allen Chametz , gesäuertes Brot, aus dem Haus entfernten und es, manchmal gemeinsam mit unseren Nachbarn, verbrannten), das besondere Besteck und Geschirr, die Tischtücher, die nur während dieser acht Tage benutzt wurden, das Ernten des Meerrettichs, der in unserem Garten wuchs und der Tränen fließen ließ, wenn man ihn rieb.
    An den Abenden des Seder-Mahls waren wir fünfzehn, manchmal zwanzig Personen bei Tisch: meine Eltern, die unverheirateten Tanten - Birdie, Len und, vor dem Krieg, Dora, manchmal auch Annie -, Cousins verschiedenen Grades, die aus Frankreich oder der Schweiz zu Besuch kamen, und immer ein Fremder oder zwei. Annie hatte ein schönes, besticktes Tischtuch aus Jerusalem mitgebracht, das in Weiß und Gold erstrahlte. In der weisen Voraussicht, dass es früher oder später zu Unfällen kommen würde, verursachte meine Mutter einen «Präventivklecks» - schon sehr früh am Abend vergoss sie Rotwein aus einer geschickt ungeschickt gehaltenen Flasche auf dem Tischtuch, sodass es keinem Gast mehr peinlich sein musste, wenn er sein Glas umwarf. Obwohl ich wusste, dass sie es absichtlich tat, konnte ich nie vorhersagen, wann der «Unfall» geschehen würde. Er sah immer vollkommen zufallig und echt aus. (Augenblicklich streute sie Salz über den Weinfleck, woraufhin er sehr viel blasser wurde und fast verschwand. Ich fragte mich, warum das Salz diese Fähigkeit hatte.)
    Anders als das Ritual in der Schul, das so rasch wie möglich abgehandelt wurde und weitgehend unverständlich für mich war, wurde das Seder-Ritual langsam vollzogen, mit langen Diskussionen, Abhandlungen und Fragen zur symbolischen Bedeutung der einzelnen Gänge - das Ei, das Salzwasser, das Bitterherbe, das Haroseth (Mus aus Äpfeln, Nüssen und Wein). Die vier Söhne, von denen im Ritual die Rede ist - der Weise, der Böse, der Naive und der, der zu jung ist, um Fragen zu stellen -, habe ich immer mit uns Vieren identifiziert, obwohl dies David gegenüber besonders unfair erschien, da er nicht böser als jeder andere Fünfzehnjährige war. Ich liebte das rituelle Händewaschen, die vier Gläser Wein, die Rezitation der zehn

Weitere Kostenlose Bücher