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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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diesem Augenblick verlassen habe und direkt zu Gott gelangt sei. Es sei ein heiliger Tod gewesen, sagten alle: Möge es Gott gefallen, wenn ihre Zeit käme, sie ebenso sterben zu lassen.
    Merkwürdigerweise sind meine beiden Großväter ebenfalls an Jom Kippur gestorben (wenn auch nicht unter so dramatischen Umständen), und zu Beginn jedes Jom Kippurs entzündeten meine Eltern flache Trauerkerzen für sie, die während des Fastens langsam niederbrannten.
    1939 reiste Tante Violet, eine ältere Schwester meiner Mutter, mit ihrer Familie aus Hamburg an. Ihr Mann Moritz war Chemielehrer und ein hochdekorierter Teilnehmer des Ersten Weltkriegs. Er hinkte, seitdem ihn damals Granatsplitter verwundet hatten. Als ein patriotischer Deutscher hätte er nie geglaubt, eines Tages aus seinem Vaterland fliehen zu müssen. Doch die Kristallnacht hatte ihm schließlich klar gemacht, welches Schicksal ihn und seine Familie erwartete, wenn sie im Lande blieben, daher flohen sie im Frühjahr 1939 nach England - gerade noch rechtzeitig (ihr gesamter Besitz wurde von den Nazis beschlagnahmt). Sie wohnten bei Onkel Dave und kurze Zeit auch bei uns, bevor sie nach Manchester zogen, wo sie eine Schule und eine Herberge für Flüchtlinge eröffneten.
    Mit meinem eigenen Zustand beschäftigt und davon völlig in Anspruch genommen, bemerkte ich kaum, was sich in der größeren Welt um mich her zutrug. Beispielsweise wusste ich wenig über die Evakuierung von Dünkirchen im Jahr 1940, nach der Kapitulation Frankreichs, von der eilig zusammengestellten Notflotte, die die letzten Flüchtlinge vom Kontinent herübergeschafft hatte. Doch als ich im Dezember 1940 in den Ferien aus Braefield nach Hause kam, fand ich ein flämisches Ehepaar vor, die Huberfelds, die jetzt in einem Gästezimmer in 37 wohnten. Sie waren auf einem kleinen Boot entkommen - wenige Stunden bevor die deutschen Truppen eintrafen, und hatten sich auf See fast verirrt. Sie wussten nicht, was aus ihren Eltern geworden war. Durch sie bekam ich zum ersten Mal einen Eindruck von dem Chaos und dem Schrecken, die in Europa herrschten.
    Während des Krieges löste sich die Gemeinde weitgehend auf - die jungen Männer meldeten sich freiwillig zum Militär oder wurden einberufen, und Hunderte von Kindern wurden wie Michael und ich aus London evakuiert. Und nach dem Krieg nahm sie nie wieder ihre alte Form an. Viele Gemeindemitglieder kamen ums Leben, entweder bei den Kämpfen auf dem Kontinent oder während der Luftangriffe auf London, andere verließen das Viertel, das vor dem Krieg ein fast ausschließlich jüdischer Mittelschichtsvorort gewesen war. Vor dem Krieg hatten meine Eltern (und ich) fast jeden Laden und Ladeninhaber in Cricklewood gekannt: Mr. Silver in seiner Apotheke, den Lebensmittelhändler Mr. Bramson, den Gemüsehändler Mr. Ginsberg, den Bäcker Mr. Grodzinski, den koscheren Schlachter Mr. Waterman - und ich sah sie alle auf ihren Plätzen in der Schul. Doch all das wurde unter dem Einfluss des Krieges und, nach dem Krieg, der raschen sozialen Veränderungen in unserer Ecke Londons zerstört. Ich selbst hatte nach den traumatischen Erlebnissen in Braefield den Kontakt zur und das Interesse an der Religion meiner Kindheit verloren. Es war schade, dass es so früh und so plötzlich geschah, aber das Gefühl von Trauer und Nostalgie mischte sich auf merkwürdige Weise mit einem wütenden Atheismus, einer Art von Wut auf Gott, weil es ihn nicht gab, weil er sich nicht kümmerte, weil er den Krieg nicht verhinderte und ihn mit all den Schrecken zuließ.
    Ihr hebräischer Name war Zipporah («Vogel»), doch für uns, die Familie, hieß sie immer Tante Birdie. Ich wußte nie so genau (und vielleicht auch alle anderen nicht), was Birdie in jungen Jahren eigentlich zugestoßen war. Es war die Rede von einer Kopfverletzung als Säugling, aber auch von einem angeborenen Leiden, einer Erkrankung der Schilddrüse, jedenfalls musste sie ihr Leben lang große Dosen Schilddrüsenextrakt einnehmen. Schon als junge Frau litt Birdie unter einer eigenartig zerknitterten und faltigen Haut. Sie war klein gewachsen und von mäßiger Intelligenz, die Einzige mit einer derartigen Behinderung unter den sonst so begabten und robusten Kindern meines Großvaters. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich sie als «behindert» ansah. Für mich war sie einfach Tante Birdie, die bei uns lebte - ein wesentliches Element des Haushalts, immer anzutreffen. Sie hatte ein eigenes Zimmer neben dem

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