Onkel Wolfram - Erinnerungen
Plagen (während man sie hersagte, tauchte man bei jeder Plage einen Zeigefinger in den Wein, um bei der zehnten Plage, der Erschlagung der Erstgeborenen, den Wein auf der Fingerspitze über die Schulter zu werfen). Als jüngstes Familienmitglied stellte ich die Vier Fragen in zitterndem Diskant und versuchte später zu erkennen, wo mein Vater die mittlere Matze, das Afikomen , versteckte (konnte ihn dabei aber ebenso wenig ertappen wie meine Mutter beim Verschütten des Weins).
Ich liebte auch die Gesänge und Rezitationen der Seder-Zeremonie, dieses Gefühl, das geprägt war von Erinnerung, von einem Ritual, das seit Jahrtausenden vollzogen wurde - die Geschichte von der Gefangenschaft in Ägypten, dem Kind Moses im Weidenkorb, das von der Tochter des Pharaos gerettet wird, dem Gelobten Land, in dem Milch und Honig fließen. Ich wurde, wir alle wurden in ein mythisches Reich entrückt.
Das Seder-Mahl zog sich bis nach Mitternacht hin, manchmal bis ein oder zwei Uhr in der Nacht, sodass ich als Fünf- oder Sechsjähriger regelmäßig einschlief. Wenn die Tafel endlich aufgehoben wurde, ließ man noch ein Glas Wein - das fünfte – für «Elija» zurück (er komme in der Nacht, erzählte man mir, und trinke den Wein, den man ihm hingestellt habe). Da mein hebräischer Name Eliahu, Elija, lautete, gelangte ich zu der Überzeugung, ich sei berechtigt, diesen Wein zu trinken, und nach einem der letzten Seder-Mahle vor dem Krieg schlich ich mich bei Nacht die Treppe hinunter und trank das ganze Glas aus. Man hat mich nie danach befragt, und ich habe die Tat nie gebeichtet, aber mein Kater am nächsten Morgen und das leere Glas machten jedes Geständnis überflüssig.
Ich hatte an allen jüdischen Festen Freude, ganz besonders aber an Sukkoth, dem Laubhüttenfest oder jüdischen Erntedankfest, denn dann errichteten wir im Garten eine Hütte aus Laub und Zweigen, die Sukka , deren Dach wir mit Gemüse und Obst behängten. Wenn das Wetter es erlaubte, durfte ich in der Sukka schlafen und durch das obstverhangene Dach auf die Sterne über mir blicken.
Doch die ernsteren Feste und die Fastenzeiten riefen mir wieder die bedrückende Atmosphäre der Synagoge ins Gedächtnis, eine Atmosphäre, die sich für mich am Versöhnungstag, Jom Kippur, zum Schrecken verdichtete, denn dann wurden (wie man uns erklärte) unsere Sünden gewogen. Man hatte zwischen Neujahr und Versöhnungstag zehn Tage, um Buße zu tun und seine Vergehen und Sünden wieder gutzumachen, und diese Buße erreichte ihren kollektiven Höhepunkt an Jom Kippur. Natürlich wurde während dieser Zeit gefastet, fünfundzwanzig Stunden lang durfte weder Speise noch Trank unsere Lippen berühren. Wir schlugen uns auf die Brust und riefen: «Wir haben dieses getan und jenes getan» - dabei wurden alle denkbaren Sünden erwähnt (viele, an die ich noch nie gedacht hatte), normale Sünden und Unterlassungssünden, absichtliche und unabsichtliche Sünden. Schrecklich daran war, dass man nicht wusste, ob das Auf-die-Brust-Schlagen Gott überzeugte, ob die Sünden, die man begangen hatte, überhaupt zu vergeben waren. Man wusste nicht, ob Gott einen wieder in das Buch des Lebens aufnehmen würde, wie es in der Liturgie hieß, oder ob man sterben und in die Dunkelheit hinausgestoßen würde. Die heftigen, unruhigen Gefühle der Gemeinde wurden von der eindrucksvollen Stimme unseres alten Chasans Schlechter zum Ausdruck gebracht - als junger Mann hatte Schlechter Opernsänger werden wollen, es jedoch nie dazu gebracht, außerhalb der Synagoge zu singen. Ganz am Ende des Gottesdienstes blies Schechter das Schofar, und damit ging Jom Kippur zu Ende.
Als ich vierzehn oder fünfzehn war - ich bin mir nicht ganz sicher -, endete der Jom-Kippur-Gottesdienst auf eine unvergessliche Weise, denn Schechter, der sich beim Blasen des Schofars immer sehr verausgabte - er bekam ein rotes Gesicht vor Anstrengung -, entlockte dem Horn einen langen, scheinbar endlosen Ton von überirdischer Schönheit und fiel dann tot von der Bema , dem erhöhten Podium, auf dem er sang. Ich hatte das Gefühl, Gott habe Schechter getötet, einen Blitz gesandt, der ihn niederstreckte. Der Schock wurde für alle durch die Überlegung gemildert, dass, wenn es überhaupt einen Augenblick gäbe, in dem die Seele rein, unbefleckt, von allen Sünden befreit sei, es eben der Augenblick sei, wo das Schofar zur Beendigung des Fastens geblasen werde, und dass Schechters Seele seinen Körper wohl mit Sicherheit in
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