Onkel Wolfram - Erinnerungen
außerordentlich nahe kommend. Das erschien sehr verblüffend - niemand hätte irgendeine Beziehung zwischen Magnetismus und Licht vermutet. Tatsächlich hatte niemand die geringste Ahnung, was Licht eigentlich sein könnte, obwohl man durchaus wusste, dass es sich als Welle ausbreitet. Nun kam Maxwell und behauptete, Licht und Magnetismus seien «Affektionen derselben Substanz. Licht ist eine elektromagnetische Störung, die sich nach elektromagnetischen Gesetzen im Feld ausbreitet». Nachdem mir dies zu Ohren gekommen war, stellte ich mir fortan das Licht ganz anders vor - als elektrische und magnetische Felder, die mit blitzartiger Geschwindigkeit übereinander hinwegsprangen und sich zu einem Lichtstrahl verflochten.
Daraus folgte logisch, dass jedes andere elektrische oder magnetische Feld eine elektromagnetische Welle hervorrufen konnte, die sich in alle Richtungen ausbreitete. Diese Erkenntnis, so erzählte mir Abe, habe Heinrich Hertz veranlasst, nach anderen elektromagnetischen Wellen zu suchen - Wellen, die vielleicht eine sehr viel größere Wellenlänge haben würden als das sichtbare Licht. Zu diesem Zweck benutzte er 1886 eine einfache Induktionsspule als «Sender» und kleine Drahtspulen mit winzigen Funkenstrecken (von einem hundertstel Millimeter) als «Empfänger». Wenn er seine Induktionsspule Funken sprühen ließ, konnte er im dunklen Labor winzige sekundäre Funken in den kleinen Spulen beobachten. «Du stellst das Radio an», sagte Abe, «und vergisst vollkommen, was für ein Wunder da geschieht. Stell dir vor, was Hertz an diesem Tag im Jahr 1886 empfunden haben muss, als er die Funken in der Dunkelheit sah und ihm klar wurde, wie sehr Maxwell Recht hatte und so etwas wie Licht, eine elektromagnetische Welle, von der Induktionsspule in alle Richtungen ausstrahlte.»
Hertz starb schon in sehr jungen Jahren und erfuhr deshalb nicht mehr, dass seine Entdeckung die Welt revolutionierte. Onkel Abe war achtzehn Jahre alt, als Marconi zum ersten Mal Funksignale über den Ärmelkanal schickte, und konnte sich noch gut an die Aufregung erinnern, die dieses Ereignis auslöste, noch größer als die Aufregung über die Entdeckung der Röntgenstrahlen zwei Jahre zuvor. Funksignale wurden von einigen Kristallen aufgefangen, vor allem Bleiglanzkristallen. Die richtige Stelle auf ihrer Oberfläche fand man mit einem Wolframdraht, einem «Detektorpinsel». Zu Onkel Abes Erfindungen gehörte ein synthetischer Kristall, der seine Aufgabe noch besser erfüllte als Bleiglanz. Damals hießen die Radiowellen «Hertzsche Wellen», weshalb Abe seinen Kristall Hertzit nannte.
Clerk Maxwells größte Leistung bestand jedoch darin, die gesamte elektromagnetische Theorie zusammenzufassen, sie zu formalisieren und in lediglich vier Gleichungen zum Ausdruck zu bringen. Auf dieser halben Seite von Symbolen, sagte Abe, als er mir die Gleichungen in einem seiner Bücher zeigte, sei die gesamte Maxwellsche Theorie komprimiert - für diejenigen, die die Gleichungen verstehen konnten. Hertz empfand sie als den Grundriss «einer neuen Physik… wie ein verzaubertes Märchenreich» - er sah nicht nur die Möglichkeit, Radiowellen zu erzeugen, sondern hatte auch das Gefühl, das ganze Universum sei kreuz und quer von elektromagnetischen Feldern aller Art durchzogen, bis an die fernsten Grenzen des Kosmos.
KAPITEL FÜNFZEHN
FAMILIENLEBEN
Von Mutter- wie von Vaterseite spielte der Zionismus eine wesentliche Rolle in meiner Familie. Alida, eine Schwester meines Vaters, arbeitete während des Ersten Weltkriegs als Assistentin von Nahum Sokolow und Chaim Weitzmann, den damaligen Führern des Zionismus in England. Aufgrund ihrer Sprachbegabung wurde sie 1917 mit der Übersetzung der Balfour-Deklaration ins Französische und Russische betraut. Ihr Sohn Aubrey war schon als Kind ein kundiger und beredter Zionist (später wurde er als Abba Eban der erste israelische Botschafter bei den Vereinten Nationen).Von meinen Eltern, Ärzten mit einem großen Haus, wurde erwartet, dass sie für die zionistischen Treffen einen Versammlungsort, ein gastfreundliches Heim, zur Verfügung stellten. In meiner Kindheit fanden solche Zusammenkünfte häufig statt, und ich konnte sie von meinem Zimmer oben im Haus deutlich hören - erregte Stimmen, endlose Auseinandersetzungen, Fäuste, die leidenschaftlich auf den Tisch hämmerten. Hin und wieder stürzte auch ein Zionist, rot vor Ärger oder Begeisterung, in mein Zimmer, auf der Suche nach einem
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