Onkel Wolfram - Erinnerungen
meiner Eltern, voller Fotos, Postkarten, Röhrchen mit buntem Sand und Nippes von Familienurlauben, die bis zum Beginn des Jahrhunderts zurückreichten. Ihr Zimmer hatte einen reinlichen, jungmädchenhaften Geruch und bedeutete eine Oase der Ruhe für mich, manchmal, wenn es im Haus drunter und drüber ging. Sie hatte einen dicken gelben Parker-Füller (meine Mutter einen orangefarbenen), mit dem sie langsam ihre ungelenken, kindlichen Buchstaben schrieb. Natürlich wusste ich, dass mit Birdie «etwas nicht stimmte», irgendetwas Medizinisches vorlag, ihre Gesundheit zart und ihr geistiges Vermögen eingeschränkt waren, doch all das hatte für uns nicht wirklich Bedeutung, spielte keine Rolle. Wir wussten nur, dass sie immer da wäre, treu und ergeben, und dass sie uns rückhalt- und bedingungslos zu lieben schien.
Als ich mich für Chemie und Mineralogie zu interessieren begann, besorgte sie mir kleine Mineralproben. Nie habe ich erfahren, wo oder wie sie sich diese verschafft hatte (auch nicht, wie sie, nachdem sie Michael gefragt hatte, was ich mir zur Bar-Mitzwa wünschte, ein Exemplar von Froissarts Chronicles für mich auftrieb). Als junge Frau arbeitete Birdie bei der Firma Raphael Tuck, die Kalender und Postkarten herstellte und eine Heerschar von jungen Frauen beschäftigte, die die Karten zeichneten und kolorierten - diese in zarten Farben gehaltenen Karten, die über Jahrzehnte sehr beliebt waren und gern gesammelt wurden, schienen ein fester Bestandteil des englischen Lebens zu sein, bis sie in den dreißiger Jahren allmählich von Farbfotografie und Farbdruck verdrängt wurden, womit Tucks kleine Heerschar von Frauen überflüssig wurde. Nachdem Birdie fast dreißig Jahre für die Firma gearbeitet hatte, wurde sie eines Tages entlassen, mit einem knappen Dankeschön und ohne Vorwarnung, von einer Rente oder Abfindung gar nicht zu reden. Als sie an diesem Abend im Jahr 1936 ins Haus trat, war ihr Gesicht «versteinert» (so berichtete mir Michael später), und sie kam nie wirklich darüber hinweg.
Birdie war so still, so zurückhaltend und zugleich so allgegenwärtig, dass wir alle sie für ganz selbstverständlich nahmen und übersahen, welche wichtige Rolle sie in unserem Leben spielte. Als ich 1951 ein Stipendium für Oxford bekam, war es Birdie, die mir das Telegramm gab, mich umarmte und mir gratulierte - auch ein paar Tränen vergoss, weil es mein Fortgehen von zu Hause bedeutete.
Nachts hatte Birdie häufig Anfälle von «Herzasthma» oder akutem Herzversagen, dann bekam sie keine Luft und panikartige Angst und musste sich aufrecht hinsetzen. Das genügte, solange ihre Anfalle zunächst leichterer Natur waren, doch als sie sich verschlimmerten, baten meine Eltern darum, dass sie sich eine kleine Messingklingel ans Bett stellte und läutete, sobald sie sich schlecht fühlte. Ich hörte die kleine Glocke in immer kürzeren Abständen, und allmählich wurde mir klar, es musste sich um eine schlimme Krankheit handeln. Meine Eltern standen sofort auf, um Birdie zu behandeln - sie brauchte jetzt Sauerstoff und Morphium, um die Anfälle zu überstehen -, während ich im Bett lag und ängstlich lauschte, bis wieder alles still war und ich schlafen konnte. Eines Nachts im Jahr 1951 läutete die kleine Glocke einmal mehr, und meine Eltern eilten in ihr Zimmer. Sie hatte einen außerordentlich schweren Anfall: Rosa Schaum stand ihr vor dem Mund - sie erstickte an der Flüssigkeit, die in ihre Lungen strömte, und reagierte weder auf Sauerstoff noch auf Morphium. In einem letzten, verzweifelten Versuch, ihr Leben zu retten, nahm meine Mutter an Birdies Arm mit einem Skalpell einen Aderlass vor, um den Druck auf ihr Herz zu verringern. Doch auch diese Maßnahme nützte nichts, und Birdie starb noch in den Armen meiner Mutter. Als ich das Zimmer betrat, sah ich überall Blut - Blut auf ihrem Nachthemd und ihren Armen, Blut auf meiner Mutter, die sie hielt. Für einen Augenblick dachte ich, meine Mutter hätte sie umgebracht, bevor ich das schreckliche Bild vor meinen Augen begriff.
Das war der erste Tod eines nahen Verwandten, eines Menschen, der ein wesentlicher Teil meines Lebens gewesen war, und er traf mich tiefer, als ich erwartet hätte.
Als Kind erschien mir unser Haus von Musik erfüllt. Es gab zwei Bechstein, ein Klavier und einen Flügel, und manchmal wurde auf beiden gespielt, ganz zu schweigen von Davids Flöte und Marcus' Klarinette. Zu solchen Zeiten bildete unser Haus ein Aquarium voller
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