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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Zwar zog er nie einen expliziten Vergleich zwischen Braefield und Dotheboys oder Mr. B. und dem schrecklichen Dr. Creakle, aber implizit und vielleicht sogar unbewusst stellte er diesen Vergleich ganz gewiss an.
    1941 verließ Michael, der jetzt dreizehn Jahre alt war, Braefield und ging ans Clifton College, wo er gnadenlos schikaniert wurde. Darüber beklagte er sich ebenso wenig wie über Braefield, doch die Anzeichen des Traumas wurden für jeden erkennbar, der aufmerksam hinsah. Im Sommer 1943, kurz nach meiner Rückkehr nach London, erspähte Auntie Len, die zu Besuch war, Michael, als er halb nackt aus dem Bad kam. «Schaut euch seinen Rücken an!», sagte sie zu meinen Eltern, «er ist voller blauer Flecke und Striemen! Wenn das mit seinem Körper geschieht», fuhr sie fort, «was geschieht dann mit seinem Geist?» Meine Eltern schienen aus allen Wolken zu fallen und meinten, sie hätten nichts bemerkt, sondern immer geglaubt, Michael mache die Schule Spaß, er hätte keine Probleme und fühle sich «wohl».
    Bald danach wurde Michael psychotisch. Er fühlte sich von einer magischen und bösartigen Welt umschlossen. (Einmal erzählte er mir, die Schrift auf dem Bus 60 nach Aldwych habe sich «verwandelt», dort stehe das Wort Aldwych nun in runenartigen, oldwitchy - altverhexten - Buchstaben.) Bezeichnenderweise gelangte er zu der Überzeugung, er sei «der Liebling eines flagellomanischen Gottes», wie er sich ausdrückte, Objekt der besonderen Aufmerksamkeit einer «sadistischen Vorsehung». Wieder gab es keine explizite Bezugnahme auf unseren flagellomanischen Schulmeister in Braefield, aber ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Mr. B. hier zu einer monströsen Vorsehung oder Gottheit aufgebläht und kosmisch überhöht wurde. Messianische Phantasien oder Wahnvorstellungen traten um die gleiche Zeit auf - wenn er gequält oder gezüchtigt wurde, dann, weil er der Messias war (oder sein könnte), der, auf den wir schon so lange warteten. Hin- und hergerissen zwischen Beseligung und Qual, Phantasie und Wirklichkeit, in dem Gefühl, verrückt zu werden (oder es möglicherweise schon zu sein), fand Michael keinen Schlaf und keine Ruhe mehr, sondern geisterte unruhig im Haus herum, stampfte mit den Füßen auf, starrte zornig, halluzinierte und schrie.
    Ich bekam Angst vor ihm und um ihn, vor dem Albtraum, der Wirklichkeit für ihn wurde, und das um so mehr, als ich ähnliche Gedanken und Gefühle in mir selbst entdecken konnte, obwohl sie verborgen und tief in meinem Innersten verschlossen waren. Was würde mit Michael geschehen? Und würde auch mit mir etwas Ähnliches passieren? Etwa zu dieser Zeit richtete ich mir mein Labor im Haus ein und verschloss die Türen, verschloss die Ohren vor Michaels Wahnsinn. Und zu dieser Zeit auch bemühte ich mich (manchmal sogar mit Erfolg) um eine intensive Konzentration und eine völlige Vertiefung in die Welten von Mineralogie, Chemie, Physik und anderen Naturwissenschaften - ein Bollwerk gegen das Chaos. Nicht dass mir Michael gleichgültig gewesen wäre, ich hatte großes Mitleid mit ihm, ich konnte weitgehend nachempfinden, was er durchmachte, aber ich musste auch Distanz wahren, aus der Neutralität und Schönheit der Natur heraus meine eigene Welt schaffen, damit ich nicht in das Chaos, den Wahnsinn, das Verlockende seiner Welt hineingezogen würde.
KAPITEL SECHZEHN

MENDELEJEWS GARTEN
    1945 wurde das Science Museum in South Kensington wieder geöffnet (den größten Teil des Krieges war es geschlossen gewesen), und als Erstes sah ich die riesige Tafel des Periodensystems, die dort hing. Sie bedeckte eine ganze Wand über der Treppe und war eigentlich eine Vitrine aus dunklem Holz mit rund neunzig Kästchen. In jedem stand der Name, das Atomgewicht und das chemische Symbol des Elements. Außerdem befand sich in jedem dieser Kästchen eine Probe des betreffenden Elements (jedenfalls für die Elemente, die man in reiner Form gewinnen und ohne Gefahr ausstellen konnte). Die Inschrift der Tafel lautete: «Die periodische Klassifizierung der Elemente - nach Mendelejew».
    Zuerst erblickte ich die Metalle, Dutzende in jeder nur denkbaren Form: Stäbe, Klumpen, Würfel, Drähte, Scheiben, Kristalle. Die meisten waren grau oder silberfarben, einige hatten einen blauen oder rosa Einschlag. Andere hatten polierte Flächen, die schwach gelb glänzten, schließlich die kräftigen Farben von Kupfer und Gold.
    In der oberen rechten Ecke befanden sich die Nichtmetalle

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