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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Ellington, «Count» Basie, «Jelly Roll» Morton, «Fats» Waller - und aus dem Trichter des neuen aufziehbaren Decca-Grammophons in seinem Zimmer hörte ich zum ersten Mal die Stimmen von Ella Fitzgerald und Billie Holliday. Manchmal, wenn David am Klavier saß, wusste ich nicht, ob er einen der Jazzpianisten spielte oder etwas Eigenes improvisierte - ich glaube, er hat sich halb im Ernst gefragt, ob er nicht Komponist werden sollte.
    David und Marcus freuten sich darauf, Ärzte zu werden, schienen aber auch, wie ich bemerkte, mit einer gewissen Traurigkeit, einem Gefühl des Verlustes und des Verzichts an Dinge zu denken, die sie hatten aufgeben müssen. Für David war es die Musik, während Marcus' Leidenschaft seit frühester Kindheit den Sprachen galt. Er hatte eine außerordentliche Sprachbegabung und ihn faszinierte immer wieder die Struktur. Mit sechzehn beherrschte er nicht nur Latein, Griechisch und Hebräisch fließend, sondern auch Arabisch, das er sich selbst beigebracht hatte. Vielleicht hätte er wie sein Cousin Aubrey orientalische Sprachen studiert, wenn nicht der Krieg ausgebrochen wäre. Genau wie David erreichte er 1941/42 das Einberufungsalter, woraufhin sie sich beide zum Medizinstudium entschlossen, teilweise, um ihre Einberufung hinauszuschieben. Doch damit haben sie, denke ich, auch ihre anderen Interessen hinausgeschoben, eine Vertagung, die in dem Moment, als sie nach London zurückkehrten, dauerhaft und unwiderruflich erschien.
    Unser Klavierlehrer Mr. Ticciati starb im Krieg, und nach meiner Rückkehr nach London 1943 besorgten mir meine Eltern eine neue Lehrerin, Mrs. Silver, eine rothaarige Frau mit einem zehnjährigen Sohn namens Kenneth, der von Geburt an gehörlos war. Nachdem ich einige Jahre lang bei ihr Unterricht gehabt hatte, wurde sie wieder schwanger. Die schwangeren Patientinnen meiner Mutter hatte ich zu Hause oft gesehen, da sie fast täglich in ihre Praxis kamen, aber Mrs. Silver war die erste Frau aus meiner unmittelbaren Umgebung, die ich in allen Stadien der Schwangerschaft miterlebte. Gegen Ende gab es ein paar Probleme - ich hörte sie von «Toxämie» sprechen und dass meine Mutter das Kind werde «wenden» müssen, damit es mit dem Kopf zuerst kam. Schließlich setzten bei Mrs. Silver Wehen ein und sie wurde ins Krankenhaus gebracht (zwar entband meine Mutter ihre Patientinnen gewöhnlich zu Hause, aber in diesem Fall war mit Komplikationen, möglicherweise sogar einem Kaiserschnitt zu rechnen). Ich kam gar nicht auf den Gedanken, dass irgendetwas Schlimmes passieren könnte, doch nach der Schule erzählte mir mein Bruder, Mrs. Silver sei während der Geburt gestorben, «auf dem OP-Tisch».
    Ich war entsetzt und wütend. Wie konnte eine gesunde Frau auf diese Weise sterben? Wie konnte meine Mutter eine solche Katastrophe geschehen lassen? Ich erfuhr nie irgendwelche Einzelheiten, aber die bloße Tatsache, dass meine Mutter die ganze Zeit zugegen gewesen war, weckte in mir die Phantasie, sie habe Mrs. Silver getötet, obwohl ich natürlich hinreichend wusste, wie erfahren und verantwortlich meine Mutter war und dass etwas geschehen sein musste, das ihr Vermögen, menschliches Vermögen überhaupt, überstieg und sich ihrer Kontrolle entzog.
    Ich machte mir große Sorgen um Kenneth, Mrs. Silvers gehörlosen Sohn, dessen Kommunikation im Wesentlichen auf der selbst erfundenen Gebärdensprache beruhte, in der er sich allein mit seiner Mutter verständigt hatte. All das führte dazu, dass ich jede Lust am Klavierspielen verlor - ein ganzes Jahr lang rührte ich keines mehr an und wollte danach auch keinen Klavierlehrer mehr haben.
    Ich hatte nie das Gefühl, meinen Bruder Michael wirklich zu kennen oder zu verstehen, obwohl er mir im Alter am nächsten und mit mir in Braefield war. Natürlich gibt es einen großen Unterschied zwischen sechs und elf Jahren (unser Alter in der Braefieldzeit), aber es haftete ihm auch etwas Besonderes an, dessen ich mir (und vielleicht auch andere) bewusst war, ohne dass wir es leicht hätten beschreiben oder gar verstehen können. Er war verträumt, geistesabwesend und äußerst in sich gekehrt. Er schien (mehr als wir anderen) in seiner eigenen Welt zu leben, obwohl er ständig und leidenschaftlich las und außerordentlich gut behielt, was er gelesen hatte. In Braefield entwickelte er gerade eine besondere Vorliebe für Dickens' Nicholas Nickleby und David Copperfield , und er kannte diese beiden extrem umfangreichen Bücher auswendig.

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