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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Töne. Wenn ich hindurchging, hörte ich erst ein Instrument und dann ein anderes (merkwürdigerweise schienen sich die verschiedenen Instrumente dabei nicht zu überschneiden; mein Ohr, meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich immer nur auf eines).
    Meine Mutter war nicht so musikalisch wie wir anderen, aber nicht weniger eine große Liebhaberin von Brahms- und Schubertliedern. Sie sang sie manchmal, von meinem Vater am Klavier begleitet. Eine besondere Vorliebe hatte sie für Schuberts «Nachtgesang», den sie mit weicher Stimme vortrug, ohne die Töne immer ganz richtig zu treffen. Das ist eine meiner frühesten Erinnerungen (ich verstand die Worte nicht, trotzdem berührte mich der Gesang ganz eigenartig). Heute kann ich ihn nicht hören, ohne mich mit fast unerträglicher Lebendigkeit an unseren Salon damals vor dem Krieg zu erinnern, an die Gestalt und Stimme meiner Mutter, wie sie sich auf das Klavier stützte und sang.
    Mein Vater war sehr musikalisch. Wenn er aus Konzerten nach Hause kam, spielte er große Teile des Programms nach dem Gehör, übertrug Passagen daraus in andere Tonarten und verfuhr mit ihnen nach Belieben. Er mochte Musik in jeder Form, die Varietes genauso wie die Kammerkonzerte, Gilbert und Sullivan nicht weniger als Monteverdi. Besonderen Gefallen fand er an den Liedern aus dem Ersten Weltkrieg, die er mit seiner klangvollen Bassstimme auch zum Besten gab. Er besaß eine umfangreiche Sammlung von Miniaturpartituren und schien immer ein oder zwei in seinen Taschen zu haben (eine von ihnen oder das Wörterbuch der musikalischen Themen, das ich ihm später einmal zum Geburtstag schenkte, nahm er immer mit zu Bett).
    Obwohl mein Vater bei einem bekannten Pianisten Unterricht hatte und immer an einem der beiden Klaviere zu finden war, waren seine Finger doch so breit und kräftig, dass sie nie so recht auf die Tasten passen wollten, daher gab er sich gewöhnlich mit impressionistischen Bruchstücken zufrieden. Er legte allerdings großen Wert darauf, dass wir Kinder das Klavier beherrschten, und engagierte mit Francesco Ticciati einen exzellenten Klavierlehrer für uns. Ticciati unterwies Marcus und David in Bach und Scarlatti mit leidenschaftlicher, anspruchsvoller Intensität (Michael und ich, die jünger waren, spielten Diabelli zu vier Händen), und manchmal konnte ich hören, wie er verärgert auf das Klavier schlug und «Nein! Nein! Nein!» rief, wenn sie seinen Ansprüchen nicht genügten. Hin und wieder setzte er sich dann selbst ans Instrument und spielte, und dann wusste ich plötzlich, was Meisterschaft bedeutete. Er vermittelte uns vor allem für Bach und den verborgenen Aufbau einer Fuge eine intensive Wahrnehmung. Es heißt, mit fünf habe man mich gefragt, was mir die liebsten Dinge auf der Welt seien, und ich soll geantwortet haben: «Räucherlachs und Bach.» (Heute, sechzig Jahre später, würde ich das Gleiche antworten.)
    Ich fand das Haus etwas öde, musiklos, als ich 1943 nach London zurückkehrte. Marcus und David, die ihr Medizinstudium gerade aufgenommen hatten, waren selbst evakuiert -Marcus nach Leeds, David nach Lancaster; mein Vater ging, wenn er sich nicht um seine Patienten kümmerte, seinen Pflichten als Luftschutzwart nach; und meine Mutter hatte ebenfalls bis spät in die Nacht mit Notoperationen im Krankenhaus St. Albans zu tun. Manchmal blieb ich auf, um das Geräusch ihrer Klingel zu hören, wenn sie fast um Mitternacht mit dem Fahrrad vom Cricklewood-Bahnhof eintraf.
    Als ein großes Vergnügen empfanden wir es in dieser Zeit, Myra Hess zu hören, die berühmte Pianistin, die die Londoner mitten im Krieg fast als Einzige, wie es schien, an die zeitlose transzendente Schönheit der Musik erinnerte. Häufig versammelten wir uns im Wohnzimmer am Radio, um der Übertragung ihrer Mittagskonzerte zu lauschen.
    Als Marcus und David nach dem Krieg zurückkehrten, um ihr Medizinstudium in London fortzusetzen, hatten sie das Flöte- und Klarinettespielen schon lange aufgegeben. Doch David besaß ganz offenkundig außergewöhnliche musikalische Gaben, er war derjenige, der wirklich nach unserem Vater schlug. David entdeckte Blues und Jazz, begeisterte sich für Gershwin und brachte eine völlig neue Art von Musik in unser zuvor rein «klassisches» Haus. Er war bereits ein sehr guter Improvisator und ein Pianist mit einer besonderen Vorliebe für Liszt, doch jetzt schwirrten plötzlich völlig neue Namen durchs Haus, Namen, die ich noch nie gehört hatte: «Duke»

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