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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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etwas schwereres Mitglied der gleichen Familie. In jeder Periode wurde gewissermaßen die gleiche Melodie gespielt - zuerst ein Alkalimetall, dann ein Erdalkalimetall, dann sechs weitere Elemente, jedes mit seiner eigenen Valenz, seinem eigenen Ton -, aber in einer anderen Tonart (es war unmöglich, hier nicht an Oktaven oder Tonleitern zu denken, schließlich lebte ich in einer musikalischen Familie, und Tonarten waren die Periodizität, die ich täglich hörte). Bestimmt wurde die Tafel vor mir von der Zahl acht, obwohl ich sehen konnte, dass im unteren Teil der Tafel zusätzliche Elemente zwischen den regelmäßigen Oktetten eingefügt waren: je zehn Extraelemente in den Perioden 4 und 5 sowie zehn plus vierzehn in der Periode 6.
    So ging es weiter, jede Periode vervollständigte sich selbst und führte in einer Reihe sinnverwirrender Schleifen zur nächsten - jedenfalls nahm das Periodensystem für mich diese Form an. Die nüchterne, rechtwinklige Tafel verwandelte sich in meiner Vorstellung zu Spiralen und Schleifen, in eine Art kosmischer Treppe, eine Jakobsleiter, die in einen pythagoreischen Himmel hinauf- und aus ihm herabführte.
    Plötzlich wurde mir mit überwältigender Deutlichkeit klar, wie erstaunlich das Periodensystem auf diejenigen gewirkt haben musste, die es zum ersten Mal sahen - auf Chemiker, die sehr vertraut waren mit sieben oder acht chemischen Familien, sich aber nie überlegt hatten, was die Basis dieser Familien sei (die Valenz), noch wie sie sich alle in ein einziges umfassendes System bringen ließen. Ich fragte mich, ob sie wohl beim ersten Anblick der Tafel reagiert hatten wie ich: «Natürlich! Das liegt doch auf der Hand! Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?»
    Egal, ob man das System in Hinblick auf die Vertikalen oder die Horizontalen betrachtete - stets gelangte man zum gleichen Gitter. Es war wie ein Kreuzworträtsel, das sich «senkrecht» und «waagerecht» gleichermaßen lösen ließ, nur dass ein Kreuzworträtsel ein willkürliches, rein menschliches Konstrukt war, während das Periodensystem eine tiefere Ordnung der Natur widerspiegelte, denn es ordnete alle Elemente nach einer fundamentalen Beziehung. Warum war diese Beziehung so und nicht anders? Ich hatte das Gefühl, es berge ein wunderbares Geheimnis, doch es war ein Kryptogramm ohne Schlüssel.
    In der Nacht, nachdem ich die Periodentafel gesehen hatte, konnte ich vor Aufregung kaum schlafen - es schien mir eine unvorstellbare Leistung zu sein, das ganze riesige und scheinbar chaotische Universum der Chemie in eine einzige allumfassende Ordnung gebracht zu haben. Einen ersten wichtigen Ansatz zur Klärung der Verhältnisse leistete Lavoisier mit der Definition der Elemente, Proust mit der Entdeckung, dass sich Elemente nur in konstanten Proportionen verbinden, und Dalton mit der Hypothese, dass Elemente Atome mit besonderen Atomgewichten besitzen. Damit war die Chemie erwachsen, zur Chemie der Elemente geworden. Doch die Elemente selbst ließen sich in keine überzeugende Ordnung bringen. Man konnte sie alphabetisch auflisten (wie es Pepper in seinem Playbook of Metals tat) oder zu isolierten lokalen Familien und Gruppen zusammenstellen. Darüber hinaus bestand keine Möglichkeit einer Ordnung, bis Mendelejew kam. Die umfassende Organisation wahrzunehmen, ein übergreifendes Prinzip zu erkennen, das alle Elemente vereinigte und aufeinander bezog, grenzte ans Wunderbare, hatte etwas Geniales. Es vermittelte mir zum ersten Mal ein Gefühl für die transzendente Macht des menschlichen Geistes, sein Vermögen, die tiefsten Geheimnisse der Natur zu entziffern, vielleicht sogar Gottes Gedanken zu lesen.
    Tafel des periodischen Systems der Elemente
    In dem aufgeregten Halbschlaf dieser Nacht träumte ich vom Periodensystem - es verwandelte sich in ein Funken sprühendes, wirbelndes Feuerrad, einen großen Sternennebel, der vom ersten bis zum letzten Element reichte und sich über das Uran hinaus ins Unendliche drehte. Am nächsten Tag konnte ich die Öffnungszeit des Museums kaum erwarten und lief dann sogleich ins obere Stockwerk, wo die Tafel hing.
    Bei diesem zweiten Besuch betrachtete ich die Tafel fast als geographisches Gebilde, ein Gebiet, ein Reich mit verschiedenen Territorien und Grenzen.
    Auf diese Weise konnte ich von den einzelnen Elementen absehen und allgemeine Tendenzen und Richtungen erkennen. Metalle galten schon lange als Sonderkategorie der Elemente. Jetzt ließ sich mit einem einzigen,

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