Onkel Wolfram - Erinnerungen
synoptischen Blick erkennen, dass sie dreiviertel des Reiches besetzt hielten, den ganzen Westen und große Teile des Südens. Nur ein kleineres Gebiet, überwiegend im Nordosten gelegen, blieben den Nichtmetallen. Eine gezackte Linie, wie der Hadrianswall, trennte die Metalle vom Rest der Elemente, ausgenommen einige «Halbmetalle», Metalloide - Arsen, Selen -, die rittlings auf dem Wall saßen. Man konnte die Tendenz zu Säuren und Basen erkennen, die Neigung der Oxide von «westlichen» Elementen, mit Wasser zu reagieren und Alkalien zu bilden, der Oxide von «östlichen» Elementen, vorwiegend Nichtmetallen, Säuren zu bilden. Ebenfalls auf einen Blick war zu erkennen, wie die Elemente zu beiden Seiten der Grenze - die Alkalimetalle und Halogene, beispielsweise Natrium und Chlor - förmlich nacheinander gierten und sich explosionsartig miteinander verbanden, wobei sie kristalline Salze mit hohen Schmelzpunkten bildeten, die sich lösten und zu Elektrolyten wurden; die Elemente in der Mitte fanden sich zu ganz anderen Verbindungen zusammen - flüchtigen Flüssigkeiten oder Gasen, die elektrischen Strom kaum oder gar nicht leiteten. Die Tafel erinnerte mich auch daran, wie Volta, Davy und Berzelius die Elemente zu einer elektrischen Reihe angeordnet hatten - die elektropositivsten Elemente alle links, die elektronegativsten alle rechts.
Der Anblick der Tafel vermittelte mir also nicht nur einen Eindruck von der Anordnung der einzelnen Elemente, sondern auch von Tendenzen aller Art.
Die Tafel zu sehen, sie zu «kapieren», veränderte mein Leben. Ich suchte sie auf, sooft ich konnte. Ich zeichnete sie in mein Heft ab und trug sie auf diese Weise stets mit mir herum. Schließlich kannte ich sie so gut - visuell und begrifflich -, dass ich allen ihren Wegen und Verzweigungen im Kopf nachspüren konnte. Ich ging in einer Gruppe nach oben, bog dann nach rechts in eine Periode ab, hielt inne, wandte mich nach unten und wusste immer genau, wo ich mich befand. Es war wie ein Garten, wie der Garten der Zahlen, den ich als Kind so geliebt hatte - nur dass dieser hier, im Gegensatz zu dem früheren, real war, ein Schlüssel zum Universum. Verzaubert, völlig vertieft umherwandernd und auf immer neue Entdeckungen stoßend, verbrachte ich jetzt Stunden in Mendelejews Garten. [40]
Im Museum hing neben der Tafel des Periodensystems eine Fotografie von Mendelejew. Er sah aus wie eine Mischung aus Fagin und Svengali, mit ungebärdigem Kopf- und Barthaar und durchdringenden, hypnotischen Augen. Eine wilde, extravagante, barbarische Erscheinung - aber auf seine Weise so romantisch wie der byronhafte Humphry Davy. Ich wollte unbedingt mehr von ihm wissen und sein berühmtes Werk Principles lesen, in dem er sein Periodensystem zum ersten Mal veröffentlicht hatte.
Sein Buch, sein Leben enttäuschten mich nicht. Er war ein Mann von enzyklopädischen Interessen, ein Musikliebhaber und enger Freund von Borodin (der ebenfalls Chemiker war). Und er war der Autor des wunderbarsten und lebendigsten chemischen Lehrbuchs, das je geschrieben wurde - The Principles of Chemistry. [41] Wie meine Eltern kam Mendelejew aus einer sehr großen Familie - wie ich las, war er das jüngste von vierzehn Kindern. Seine Mutter hat offenbar seine früh erwachte Intelligenz erkannt und gelangte, als er vierzehn war, zu der Überzeugung, dass er ohne eine geeignete Ausbildung nicht weiterkommen würde, daher machte sie sich mit ihm auf den Weg und legte von Sibirien aus viele tausend Kilometer zu Fuß zurück - zuerst zur Universität Moskau (die er als Sibirier nicht besuchen durfte) und von dort nach St. Petersburg, wo er ein Stipendium für die Lehrerausbildung erhielt. (Sie selbst starb wenig später, kurz vor ihrem sechzigsten Geburtstag, offenbar an Erschöpfung nach dieser ungeheuren Anstrengung. Mendelejew, der sehr an ihr gehangen hatte, widmete ihr später die Principles .)
Schon als Student in St. Petersburg bewies Mendelejew nicht nur eine unersättliche Neugier, sondern auch den Drang, Prinzipien aller Art zu organisieren. Im 18. Jahrhundert hatte Linné Tiere und Planzen klassifiziert und dies auch mit den Mineralien versucht (allerdings mit weit geringerem Erfolg). Dana hatte in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts die alte physikalische Klassifizierung der Mineralien durch eine chemische Klassifizierung nach etwa einem Dutzend Hauptkategorien ersetzt (natürlich vorkommende Elemente, Oxide, Sulfide und so fort). Doch für die Elemente
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