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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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-Schwefel in spektakulären gelben Kristallen und die durchscheinenden roten Kristalle des Selens; Phosphor, wie blasses Bienenwachs unter Wasser; dann Kohlenstoff in Gestalt winziger Diamanten und glänzenden schwarzen Graphits. Bor war ein bräunliches Pulver, und Silizium hatte die Form fester Kristalle, die in kräftigem Schwarz schimmerten wie Graphit oder Galenit.
    Links die Alkali- und Erdalkalimetalle, die Humphry-Davy-Metalle - alle (ausgenommen Magnesium) in schützenden Naphthabädern. Besonders eindrucksvoll fand ich das Lithium in der oberen Ecke, das dank seiner Leichtigkeit auf dem Naphtha schwamm, und, weiter unten, das Zäsium, das eine glitzernde Pfütze am Grund des Naphthas bildete. Zäsium hatte, wie ich wusste, einen sehr niedrigen Schmelzpunkt, und es war ein heißer Sommertag. Anhand der winzigen, teilweise oxidierten Klümpchen, die ich bisher gesehen hatte, war mir nicht klar geworden, dass reines Zäsium goldfarben war - zunächst war es nur ein Goldschimmer, ein Aufblitzen von Gold, ein flüchtiges Schillern. Doch aus einem tiefer gelegenen Blickwinkel wurde es reines Gold, ein gülden funkelnder See oder goldenes Quecksilber.
    Dann gab es Elemente, die bis dahin nur Namen für mich gewesen waren (oder, genauso abstrakt, Namen, die mit einigen physikalischen Eigenschaften und Atomgewichten verknüpft waren). Zum ersten Mal erblickte ich nun die ganze Bandbreite ihrer Vielfalt und tatsächlichen Erscheinung. Bei diesem ersten, sinnlichen Blick erschien mir die Tafel als ein üppiges Bankett, eine riesige Festtafel, die mit gut achtzig verschiedenen Gerichten gedeckt war.
    Zu diesem Zeitpunkt war ich mit den Eigenschaften vieler Elemente vertraut und wusste, dass sie eine Anzahl natürlicher Familien bildeten - zum Beispiel die Alkalimetalle, die Erdalkalimetalle und die Halogene. Diese Familien (Mendelejew nannte sie «Gruppen») bildeten die Senkrechten der Tabellen, die Alkali- und die Erdalkalimetalle auf der linken, die Halogene und Edelgase auf der rechten Seite, während alles andere in vier Zwischengruppen untergebracht war. Der «Gruppencharakter» dieser Zwischengruppen war etwas weniger klar. So sah ich etwa in Gruppe VI Schwefel, Selen und Tellur. Ich kannte diese drei (meine «Stinkogene») als sehr ähnliche Elemente, aber was tat der Sauerstoff dort, der die Gruppe anführte? Es musste irgendein tieferes Prinzip geben - und das gab es tatsächlich. Es stand über der Tafel, doch in meiner Ungeduld, mir die Elemente selbst anzusehen, hatte ich darauf überhaupt nicht geachtet. Das tiefere Prinzip war, wie ich erkannte, die Valenz oder Wertigkeit. Der Begriff Valenz fand sich nicht in meinen alten viktorianischen Büchern, denn er war erst Ende der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts entwickelt worden. Mendelejew hatte sich als einer der Ersten seiner bedient und ihn als Grundlage seiner Klassifizierung verwendet, womit er etwas völlig Neues schuf: ein Grundprinzip, eine Erklärung für die Tatsache, dass Elemente offenbar natürliche Familien bilden, deren Mitglieder weitreichende chemische und physikalische Verwandtschaften erkennen lassen. Anhand ihrer Valenzen identifizierte Mendelejew acht solche Gruppen.
    So hatten die Elemente in Gruppe I, die Alkali-Elemente, eine Valenz von eins: Ein Atom konnte sich mit einem Wasserstoffatom zusammentun und Verbindungen bilden wie LiH, NaH, KH und so fort. (Oder mit einem Chloratom, um Verbindungen wie LiCl, NaCl oder KC1 zu bilden.) Die Elemente der Gruppe II, die Erdalkalimetalle, hatten eine Valenz von zwei und bildeten entsprechend Verbindungen wie CaCl 2 , SrCh, BaCl 2 und so fort. Die Elemente der Gruppe VIII hatten eine maximale Wertigkeit von acht.
    Doch während Mendelejew die Elemente nach der Wertigkeit organisierte, war er gleichzeitig von den Atomgewichten fasziniert und von dem Umstand begeistert, dass das Atomgewicht für jedes Element etwas Besonderes und Einzigartiges darstellte, sozusagen das atomare Kennzeichen jedes Elements. Und wenn er im Geiste die Elemente nach ihren Valenzen ordnete, so tat er es gleichzeitig in Übereinstimmung mit ihren Atomgewichten. Wie durch Zauberhand fügten sich beide Ordnungen zusammen. Denn wenn er die Elemente ganz einfach nach ihren Atomgewichten ordnete, in waagerechten «Perioden», wie er sie nannte, dann kam es in regelmäßigen Intervallen zur Wiederkehr bestimmter Eigenschaften und Valenzen.
    Jedes Element führte die Eigenschaften des Elementes über ihm fort, war also ein

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