Onkel Wolfram - Erinnerungen
und brüderliche Koexistenz führen.)
Je mehr mir Onkel Abe zeigte, desto rätselhafter wurde die ganze Sache. Ich besaß einige Grundkenntnisse über das Licht: Ich wusste, dass Farben durch die Art und Weise zustande kamen, wie wir einige Frequenzen oder Wellenlängen sahen, und dass die Farben von Gegenständen davon abhingen, wie diese Licht absorbierten oder durchließen, welche Frequenzen sie blockierten und welche sie passieren ließen. Mir war klar, dass schwarze Stoffe alles Licht absorbierten und nichts durchließen, während es sich bei Metallen und Spiegeln umgekehrt verhielt die Wellenfront der Lichtteilchen, so stellte ich mir vor, prallt gegen den Spiegel wie ein Gummiball und wird augenblicklich zurückgeworfen.
Aber keiner dieser Begriffe half mir, als ich mich den Erscheinungen von Fluoreszenz und Phosphoreszenz zuwandte, denn hier konnte man ein Objekt mit einem unsichtbaren Licht, einem «schwarzen» Licht bestrahlen, und es leuchtete weiß, rot, grün oder gelb, wobei es ein eigenes Licht emittierte, eine Lichtfrequenz, die in der Lichtquelle nicht vorhanden war.
Und dann war da noch die Frage der Verzögerung. Normalerweise schien das Licht augenblicklich zu wirken. Doch bei der Phosphoreszenz wurde die Energie des Sonnenlichts scheinbar eingefangen, gespeichert, in Energie anderer Frequenz umgewandelt und dann langsam in kleinen Portionen emittiert, was Stunden dauern konnte (ähnliche Verzögerungen gebe es, berichtete Onkel Abe, bei der Fluoreszenz, doch dort seien sie sehr viel kürzer und dauerten nur Sekundenbruchteile). Wie war das möglich?
KAPITEL NEUNZEHN
MA
In einem Nachkriegssommer in Bournemouth gelang es mir, einen sehr großen Tintenfisch von einem Fischer zu bekommen und ihn in der von mir mit Seewasser gefüllten Badewanne unseres Hotelzimmers unterzubringen. Ich fütterte ihn mit lebenden Krebsen, die er mit seinem harten Maul aufriss, und ich glaube, er hing an mir. Mit Gewissheit erkannte er mich, wenn ich das Badezimmer betrat - durch veränderte Färbung brachte er seine Emotionen zum Ausdruck. Zwar hielten wir Hunde und Katzen zu Hause, doch ein eigenes Tier besaß ich nie. Jetzt hatte ich eines, und mir erschien mein Tintenfisch genauso intelligent und liebevoll wie irgendein Hund. Ich wollte ihn mit nach London nehmen, ihm ein Zuhause geben, einen riesigen Behälter, der mit Seeanemonen und Tang hergerichtet wäre - er sollte mein persönliches Haustier werden.
Ich las viel über Aquarien und künstliches Meerwasser, aber dann wurde mir die Entscheidung doch abgenommen, denn eines Tages stand das Zimmermädchen im Badezimmer, sah den Tintenfisch in der Wanne, bekam einen hysterischen Anfall und stocherte mit einem langen Besenstiel heftig auf das arme Tier ein. Das stieß in seiner Not eine riesige Tintenwolke aus, und als ich etwas später zurückkehrte, lag es tot in seiner eigenen Tinte. Tieftraurig sezierte ich ihn nach unserer Rückkehr nach London, um so viel wie möglich über ihn in Erfahrung zu bringen, und bewahrte seine zerteilten, in Formalin schwimmenden Reste noch viele Jahre in meinem Zimmer auf.
Da ich in einem Arzthaushalt lebte, hörte ich meine Eltern und älteren Brüder oft über Patienten und Krankheiten sprechen, was mich faszinierte und (manchmal) auch abstieß, doch mein neues chemisches Vokabular gestattete mir, in gewissem Sinne mit ihnen zu konkurrieren. Wenn sie etwa über ein Empyem sprachen (ein wohlklingendes dreisilbiges Wort für eine hässliche Vereiterung der Brusthöhle), dann konnte ich mit Empyreuma , dem prachtvollen Ausdruck für den Geruch brennender organischer Stoffe, noch einen draufsetzen. Dabei hatte es mir nicht nur der Laut dieser Worte angetan, sondern auch ihre Etymologie - ich lernte jetzt Griechisch und Latein in der Schule und bemühte mich stundenlang, den Ursprung und die Herkunft der chemischen Fachbegriffe herauszufinden und die manchmal verschlungenen und indirekten Wege nachzuzeichnen, auf denen sie ihre gegenwärtigen Bedeutungen angenommen hatten.
Meine beiden Eltern neigten dazu, medizinische Geschichten zu erzählen - Geschichten, die mit der Beschreibung eines krankhaften Zustands beginnen mochten und sich dann zu einer ganzen Biographie auswuchsen. Besonders meine Mutter liebte solche Geschichten, sie erzählte sie ihren Studenten und Kollegen, unseren Dinnergästen und jedem, der greifbar war. Für sie war das Medizinische immer ins Leben eingebettet. Gelegentlich beobachtete ich den Milchmann
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