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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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oder den Gärtner, wie sie gebannt einer ihrer klinischen Erzählungen lauschten.
    In der Praxis stand ein großer Bücherschrank mit medizinischer Fachlektüre. Ich las mich kreuz und quer hindurch, häufig mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen. Einige Bücher nahm ich immer wieder in die Hand: etwa Bland-Suttons Tumours Innocent and Malignant - das Werk hatte es mir angetan wegen seiner Strichzeichnungen von monströsen Teratomen und Tumoren, von siamesischen Zwillingen, die in der Leibesmitte oder mit den Gesichtern zusammengewachsen waren, von Kälbern mit zwei Köpfen, einem Baby, das einen winzigen Extrakopf in der Nähe eines Ohrs hatte (einen Kopf, der, wie ich las, in winziger Nachbildung den Gesichtsausdruck des Hauptgesichtes widerspiegelte), von «Trichobezoaren» - bizarren Bällen voller Haar und anderen Dingen, die verschluckt werden und sich, manchmal mit fatalen Folgen, im Magen ansammeln -, von einer Eierstockzyste, so groß, dass sie mit einem Handkarren davongefahren werden musste, und natürlich von dem Elefantenmenschen, von dem mein Vater mir bereits erzählt hatte (er war wenige Jahre, nachdem John Merrick dort gelebt hatte, Student am London Hospital gewesen). Kaum weniger schrecklich erschien ein Atlas of Dermachromes , der jede scheußliche Hauterkrankung abbildete, von der Erdenbewohner befallen werden können. Doch das aufschlussreichste und meistgelesene war Frenchs Differential Diagnosis - die winzigen Strichzeichnungen darin taten es mir an. In diesem Buch entdeckte ich ungeahnte Schrecken, am entsetzlichsten wohl der Artikel über Progerie, eine rasch fortschreitende Senilität, die dazu führen konnte, dass ein zehnjähriges Kind in wenigen Monaten eine ganze Lebensspanne durchmaß, sodass es sich in ein kahlköpfiges, hakennasiges, keuchendes Geschöpf mit zerbrechlichen Knochen verwandelte und aussah wie der runzlige, affenähnliche Gagool - der dreihundertjährige Zauberer aus König Salomons Schatzkammer - oder die wahnsinnigen Struldbrugs im Land Luggnagg, zu denen es Gulliver verschlug.
    Zwar waren mit meiner Rückkehr nach London und der «Lehrzeit» (wie ich es manchmal nannte) bei meinen Onkeln viele der Ängste von Braefield wie ein böser Traum verschwunden, trotzdem blieb ein Rest von Furcht und Aberglaube zurück, das Gefühl, dass mir irgendetwas Schreckliches vorherbestimmt sei und es mich jeden Augenblick ereilen könnte.
    Ich vermute, die besonderen Gefahren der Chemie hatte ich mir bis zu einem gewissen Grade deshalb ausgesucht, weil sie es mir erlaubten, mit solchen Ängsten zu spielen, mich davon zu überzeugen, dass es mit Sorgfalt und Wachsamkeit, Vorsicht und Umsicht möglich war, diese gefährliche Welt zu beherrschen oder zumindest zu bestehen. Und tatsächlich ist es mir dank Vorsicht (und Glück) gelungen, mich nie allzu sehr zu verletzen; so behielt ich immer das Gefühl, die Dinge zu meistern und zu kontrollieren. Doch im Hinblick auf die Gesundheit und das Leben im Allgemeinen ließen sich keine derartigen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Jetzt wurde ich von anderen Formen der Angst und der Furcht heimgesucht: Ich bekam Angst vor Pferden (die der Milchmann immer noch vor seinen Wagen spannte), dass sie mich mit ihren großen Zähnen beißen könnten; Angst, die Straße zu überqueren, besonders nachdem unser Hund Greta von einem Motorrad getötet worden war; Angst vor anderen Kindern, die (wenn sie sonst nichts taten) mich zumindest auslachten; Angst, auf die Ritzen zwischen den Pflastersteinen zu treten, und vor allem Angst vor Krankheit und Tod.
    Die medizinischen Bücher meiner Eltern nährten diese Ängste, verstärkten einen beginnenden Hang zur Hypochondrie. Etwa mit zehn bekam ich eine rätselhafte, wenn auch kaum lebensbedrohliche Hautkrankheit, bei der ich hinter den Ellenbogen und Knien Serum absonderte, das meine Kleidung beschmutzte und dafür sorgte, dass ich mich nicht mehr unbekleidet zeigte. War es mein Schicksal, so fragte ich mich panisch, eine dieser Hautkrankheiten oder monströsen Tumore zu bekommen, von denen ich gelesen hatte - oder war die Progerie meine entsetzliche Bestimmung?
    Ich liebte den Morrison-Tisch, einen riesigen Eisentisch, der im Frühstückszimmer stand und der vermutlich stabil genug war, um das Gesamtgewicht des Hauses zu tragen, falls wir von einer Bombe getroffen würden. Es gab viele Geschichten, in denen derartige Tische das Leben von Menschen gerettet hatten, die sonst durch die Trümmer ihrer

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