Onkel Wolfram - Erinnerungen
Häuser erschlagen worden oder in ihnen erstickt wären. Die ganze Familie suchte während der Luftangriffe Zuflucht unter dem Tisch, und so nahm dieses abschirmende, schützende Möbelstück für mich fast menschliche Züge an. Dieser Tisch würde uns Schutz bieten, für uns sorgen, uns behüten.
Ich fand es dort sehr behaglich - fast ein kleines Haus im Haus -, und als ich mit zehn Jahren aus dem St. Lawrence College zurückkam, kroch ich manchmal, auch wenn kein Luftangriff war, darunter und blieb dort still sitzen oder liegen.
Meine Eltern erkannten, dass ich mich in keinem sehr stabilen Zustand befand damals, und verloren keinen Kommentar, wenn ich mich zurückzog und unter den Tisch krabbelte. Eines Abends, als ich unter ihm hervorkroch, entdeckten sie jedoch voller Entsetzen eine kahle, kreisförmige Stelle auf meinem Kopf - Ringelflechte lautete ihre augenblickliche medizinische Diagnose. Meine Mutter untersuchte mich eingehender und beriet sich flüsternd mit meinem Vater. Sie hatten noch nie gehört, dass Ringelflechte mit solcher Plötzlichkeit auftreten konnte. Ich sagte nichts dazu, versuchte unschuldig auszusehen und versteckte das Rasiermesser, Marcus' Rasiermesser, das ich mit unter den Tisch genommen hatte. Am folgenden Tag brachten sie mich zu Dr. Muende, einem Hautarzt. Der musterte mich mit einem durchdringenden Blick - ich war mir sicher, dass er mich sofort durchschaute -, nahm eine Haarprobe von der kahlen Stelle und legte sie unter sein Mikroskop. Nach einer Sekunde hieß es «Dermatitis artefacta» , womit er zum Ausdruck brachte, dass der Haarverlust selbst verschuldet war, und als er dies sagte, wurde ich über und über rot. Doch auch dieses Mal gab es keine Diskussion darüber, warum ich mir den Kopf rasiert oder warum ich gelogen hatte.
Meine Mutter war eine außerordentlich schüchterne Frau, die gesellschaftliche Zusammenkünfte kaum ertragen konnte. Waren sie beim besten Willen nicht zu vermeiden, dann zog sie sich ins Schweigen oder ihre eigene Gedankenwelt zurück. Doch sie hatte auch eine andere Seite. Im ungezwungenen Kreise ihrer Studenten bewies sie einen überraschenden Hang zu Ausgelassenheit, Übertreibung, ja Theatralik. Viele Jahre später, als ich mein erstes Buch im Verlagshaus Faber ablieferte, fragte mich die Lektorin: «Wissen Sie eigentlich, dass wir uns schon einmal gesehen haben?»
«Ich glaube mich nicht zu erinnern», antwortete ich verlegen. «Ich habe leider kein Gedächtnis für Gesichter.»
«Wie sollten Sie auch», meinte sie, «es ist schon viele Jahre her. Ich habe damals bei Ihrer Mutter studiert. Sie hat einmal über das Stillen gelesen, und plötzlich, nach ein paar Minuten, unterbrach sie sich und sagte: ‹Am Stillen gibt es nichts Problematisches oder Peinliches.› Mit diesen Worten beugte sie sich hinab, nahm ein kleines Baby hoch, das hinter ihrem Pult versteckt geschlafen hatte, wickelte es aus und stillte es vor der versammelten Hörerschaft. Das war im September 1933, und Sie waren das Baby.»
Von meiner Mutter habe ich die Schüchternheit, die Scheu vor gesellschaftlichen Ereignissen, aber auch genauso ihren Hang zum extrovertierten, übertriebenen Agieren vor Zuhörern geerbt.
Es gab noch eine andere, tiefere Ebene in ihrem Leben: Sie ging vollkommen in ihrer Arbeit auf. Sie war absolut konzentriert, wenn sie operierte (auch wenn sie das fast andächtige Schweigen von Zeit zu Zeit unterbrach, indem sie einen Witz erzählte oder einer ihrer Assistentinnen ein Rezept gab). Sie hatte viel Gefühl für die Struktur der Dinge, für die Art ihrer Zusammensetzung - egal, ob es sich um menschliche Körper, um wissenschaftliche Apparate oder profanere Geräte handelte. Sie benutzte noch immer das alte Zeiss-Mikroskop, das sie als Studentin bekommen hatte und das sie liebevoll pflegte und ölte. Mit großem Vergnügen sezierte sie Gewebeproben, härtete, fixierte und färbte sie verschieden ein - das heißt, sie brachte die ganze Fülle der Techniken zur Anwendung, um sezierte Gewebe haltbar und gut sichtbar zu machen. Anhand solcher Objektträger führte sie mich in einige Wunder der Histologie ein, und ich lernte - in den kräftigen Farben von Hämotoxylin und Eosin oder den dunklen Schattierungen des Osmiums -, eine Vielzahl gesunder und bösartiger Zellen zu erkennen. Ich konnte die abstrakte Schönheit dieser Gewebeproben würdigen, ohne mir viele Gedanken über die Krankheiten oder chirurgischen Eingriffe zu machen, denen sie ihre Existenz
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