Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)
Dienstag, dem 10. August, las Edda ihm am Telefon ein Schreiben des Finanzamts vor, unterzeichnet vom allseits be-, ja geliebten Ludwig Käßner. Demzufolge habe er, Onno, seine letzte Bußgeldrate nicht überwiesen. »Hab ich wohl«, sagte Onno und rief Lulu Käßner sofort an. Nannte ihm die entsprechenden Daten, und nachdem der Sachbearbeiter eine Weile sachlich und fachlich einwandfrei in seinem Computer geblättert hatte, gestand er ein, da wohl etwas »übersehen« zu haben.
»Nech?« sagte Onno. »Übersehn, nech? Geht schnell, nech, daß man mal was übersieht, nech? Nech? Nech?«
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Am Donnerstag, dem 12. August, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, kehrte Onno zu Edda in die Hamburger Wohnung zurück. Hielt die Isolation nicht mehr aus. Hatte Sehnsucht nach einer alltäglichen Edda. Die Wochenend-Edda machte ihn traurig. Er hatte Sehnsucht nach Raimund, Ulli und mir. Sehnsucht nach dem Celluloidbällchen, Carina und Schnorf. Nach dem alten Onnosein.
Am Freitag, dem 13. August, gegen 10:45 Uhr suchte er mich, um ein paar Unterschriften zu leisten, in meiner Kanzlei auf, wie am Vortag mit Robota terminlich vereinbart. Wollte es so. »Ich kann mich doch nicht bis an mein Lebensende verstecken, nech«, sagte er. »Geiler Blick«, fügte er hinzu, indem er über meine Schulter hinweg durchs Fenster schaute – genau wie an dem Tag rund vier Monate zuvor, als alles begonnen hatte.
Das Becken der Binnenalster bildet ein schiefes Viereck, der Jungfernstieg dabei das schnurgerade Südwestufer (und der Neue Jungfernstieg das Westufer mit dem Hotel Vier Jahreszeiten). Mittendrin, von seiner zentral installierten, mit Scheinwerfern bestückten Plattform, schoß der gesponserte Springbrunnen seine Fontäne kirchturmhoch in die Luft und spaltete den Anblick der Lombardsbrücke in West- und sprühverschleierten Ostflügel, desgleichen ihr Spiegelbild im See. Auch ich hatte den Panoramablick aus meinem Büro auf das geographische Herz und Wahrzeichen der Stadt stets geliebt, bis zu diesem Freitag, den dreizehnten – ein Ausblick, der noch dem blindesten Tourismusmanager der Welt ein Stevie-Wonder-Grinsen entlocken dürfte. An diesem heißen Augustvormittag wirkte die Wasseroberfläche wie gepunzt. Das Blau changierte silbrig. Vom Jungfernstieg aus ragte der Holzpier der Alsterschiffahrtsges. mbH, zehn Schritt breit und hundert Schritt lang, schräg hinein. Am anderen Ende legte grad die Saselbek an.
»Du siehst aus …«, sagte ich.
»Wie. Wie seh ich aus?«
»Wie ein … Dandy-Taliban.«
»Öff, öff.«
Wir plauderten ein wenig; ich ermahnte ihn, mir bei Gelegenheit mal das Fernglas zurückzuerstatten, und gegen – grob rückwärts gerechnet – 11:10 Uhr verließ er mein Büro, und ich weiß noch, daß ich in Herz und Zwerchfell beinah schmerzhaft spürte, wie meine Achtung vor und meine Zuneigung zu diesem zauseligen alten Zossen wieder aufs alte Niveau stiegen.
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Das 560-PS – Triebwerk eines Lamborghini Gallardo vermag enormes Gebrüll zu produzieren. Mit einem Schalldruck nahe dem Infrawellenbereich, den man zur Not auch spüren würde. Bei einem Kavaliersstart an einer Ampel, beispielsweise. Und wenn solchermaßen allradgetriebene 295er-Pneus gleich darauf eine infernalisch kreischende Drift von der Strenge eines logarithmischen Zwillingsgraphen in eine derart enge Asphaltkurve radieren wie die vor der Europa-Passage am Ballindamm, dann reagieren auf Luftschwingungen selbst halbtaube Nerven noch hochsensibel. Zumal die eines Mannes, der seit Monaten vor einem Säbelzahntiger flieht.
Umdrehen und Kopfeinziehen vermutlich eine Bewegung. Von der Abruptheit dürfte unserm Onno schwindlig geworden sein.
Seh- und Hörnerven eines Menschen reagieren bei akuter Angst von allen Sinnen am empfindlichsten, und so dürfte Onno das Aroma verbrannten Gummis entgangen sein. Zeugen zufolge aber durchzog es den heißen Atem jenes Hochsommervormittags, der den Jungfernstieg erfüllte. Vielleicht braucht der Gestank von Reifenabrieb auf heißem Asphalt, um sich zu entwickeln, einfach mehr als die max. zwei Sekunden, in denen das Monstrum geduckt, doch brüllend herangerast kam, um den sechzig, siebzig Meter kurzen Haken von roter Ampel zu roter Ampel nachzuvollziehen. Die Schwärze von Lack und Glas fraß alles, was licht und lieblich war an jenem Tropentag. Die abstehenden Muscheln der beiden Außenspiegel – kann ich mir vorstellen – lösten womöglich so etwas wie Ehrfurcht in Onnos Seele aus,
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