Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)
ähnlich wird es ihm sein Mandelkern eingeflüstert haben. Recht so. Schupf, Onno. Schupf.
Und tatsächlich; es war Punkt 11:15 Uhr, die Saselbek legte ab.
Der Alsterdampfer wies mit dem Bug nach dem Jungfernstieg, und da die Schlumper Shantyboys gerade ihren »Jung mit’n Tüdelband« geschmettert hatten, war der Krach des hundert Meter entfernten Unfalls bei den Passagieren untergegangen. Auch Käpt’n L. hatte mit dem Rücken zum Geschehen gestanden, weil er in seiner Eigenschaft als Schalterbeamter noch dem Mann mit dem Kinnzopf eine Fahrkarte verkauft hatte.
Onno machte einfach einen langen Schritt auf die sich grad entfernende rote Fenderkante am Heck. Klammerte sich an die Reling und kletterte hinüber auf die Veranda. Zum diskreten Erstaunen des jungen Piercing-Klubs sowie der beiden älteren Herrschaften, Werner und Frau. (Dagmar und Ellen würden ja erst am nächsten Anleger zusteigen.) Dann sah ich, wie er unter Deck ging, während die Saselbek einen eleganten 180-Grad-Bogen schwojte und, wie angetrieben von einem Wellenvektor, auf die Lombardsbrücke zubrummte.
Die Lombardsbrücke und ihr paralleles Gegenstück, die Kennedybrücke, bildeten das Durchlaßventil im Nordufer der Binnenalster, das mit den riesigen, aufgeplusterten Laubperücken alten Baumbestandes malerisch begrünt war. Sie gestatteten nicht nur die Durchfahrt des Bootsverkehrs, sondern, von meiner Warte aus, über Auto- und Bahnverkehr hinweg auch einen gewissen Durchblick auf Außenalster und Uhlenhorster Ufer. Ich zappte hin und her mit meinem Blick, zwischen der Fahrt der Saselbek und dem grotesken Geschehen da unten, direkt unter meinem Bürofenster, auf dem Jungfernstieg; und während mein Puls galoppierte, flogen meine Gedanken von einer Ausflucht zur nächsten; und noch bevor die Saselbek unterm rechten der drei Brückenbögen verschwand, fiel mir siedendheiß ein, daß sie als nächstes den Atlantic-Anleger an der Außenalster ansteuern würde, aus meiner Perspektive verborgen hinter all dem Grün des Nordostufers dahinten.
Und offenbar nicht nur mir fiel das ein.
Wenn er verblüfft oder verärgert war von Onnos Abgang, dann war es dem Hünen von meiner Warte hier oben am Bürofenster aus schwer anzumerken. Er kehrte einfach um, woraufhin ihm der oben erwähnte Zeuge in den Weg trat. Es handelte sich um einen 30jährigen, recht durchtrainierten Polizisten auf Urlaub. In zusehends unzivilisierter werdenden Zeiten beschwören ja genau die Institutionen, die die zusehends unzivilisierter werdenden Zeiten zu verantworten haben, weil sie politischer Courage entbehren, Zivilcourage am inbrünstigsten. Ausbaden müssen dieselbe dann – tja, eben: Zivilisten. Resp. ein Polizist auf Urlaub, den der Hüne am Fuß der Rollstuhlrampe mit einem ansatzlosen Drehkick an die Schläfe aus dem Weg räumte.
Dann ging er zurück zu seinem lädierten Lamborghini. Holte einen Gegenstand heraus, den ich sogar von hier oben aus als Stichwaffe erkannte. Schritt auf den Enduro-Fahrer zu, der in dem sich rasch verdichtenden Verkehrschaos eingekeilt worden war. Der Fahrer stieg zuvorkommend ab, der Hüne dankend auf. Und weil er sich um Rücksicht nicht zu bekümmern brauchte, zwängte er sich unter Verursachung erheblicher Lack- und Blechschäden zwischen zwei teure Limousinen hindurch. Zog – inmitten davonsprengender Salzsäulen – eine knatternde Schleife über den Gehweg und fädelte sich wieder auf die Straße ein. Preschte den Ballindamm hinunter.
Atemlos starrte ich ihm hinterher. Der Realfilm seiner rasenden Fahrt wurde von den Stämmen der noch jungen Allee in zig Sequenzen zerstückelt – ungerührt dabei die edlen Fassaden der altehrwürdigen, von grünen Kupferdächern gekrönten Geschäftsgebäude. Und während sich in den darauffolgenden Minuten der Menschen- und Verkehrsknoten um das Schlachtfeld aus Sach- und Personenschäden und blaufackelnden Polizei- und Krankenwagen da unten gordisch zuzog, ebneten Doppelverglasung und Klimaanlage die entsprechenden Geräusche hier oben in meinem Büro zu einer Art weißem Rauschen ein. (Nur die ineinander gestauchten Signale der Martinshörner kratzten mein Kardiogramm hinein.)
Doch weder öffnete ich ein Fenster, um mich aus der Abschottung zu befreien, noch ging ich hinunter auf die Straße, noch telefonierte ich. Ich knetete, während ich hin und herlief, den Telefonhörer, daß die Formteile knarrten, das ja. Aber ich wählte keine Nummer. Trotz Klimaanlage schwitzte ich. Ich
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