Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Offenbar habe ich mir nicht zu viele Fehler geleistet in Norwegen: Kurz nach unserer Rückkehr kam eine Mail des Expeditionsleiters mit einer 20-seitigen Ausrüstungsliste im Excel-Format und der Information, dass er sich mit der genannten Vierergruppe »eine gemeinsame Tour vorstellen« könne und »sie auch so möchte«. Die anderen beiden, die in der Hardangervidda noch dabei waren, haben für den Sommer abgesagt.
Wir haben uns im Ötztal getroffen für die letzte Trainingseinheit vor Grönland. Wir üben die Bergung aus Gletscherspalten. Eisschrauben befestigen, Flaschenzüge bauen, mit lautem »Hau ruck!« den Abgestürzten am Seil herausziehen – das alles muss im Notfall reibungslos funktionieren.
Zunächst ziehen wir uns gegenseitig an einem Berghang hoch, dann gehen wir auf den Gletscher, der gleich neben der Hütte beginnt. An einer Furcht einflößenden Spalte, mindestens 30 Meter tief, perfektionieren wir unsere Bergungstechnik, bis jeder Handgriff sitzt.
Die Probephase ist nun vorbei: Von Anfang August bis Mitte September wollen wir quer durch Grönland laufen, von Ost nach West, in der entgegengesetzten Richtung der de-Quervain-Expedition. 35 Tage haben wir dafür eingeplant, Das wären sechs Tage weniger, als mein Opa unterwegs gewesen ist. Die Expeditionszulassung hat das grönländische Umweltministerium ausgestellt, amtliche Nummer C12-12. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, wird es ernst.
28. Juni 2012
Hamburg
Ernst wird auch Frau Doktor Dorn, die Sportärztin im Fitnessstudio, als sie meine Versuche beobachtet, achtmal in Folge auf einem Bein langsam von einem Stuhl aufzustehen. Ich habe ihr von meinen Expeditionsplänen erzählt. Jetzt komme ich schon nach fünf Wiederholungen ins Schwitzen, und mein hoher Blutdruck gefällt ihr überhaupt nicht. »Haben Sie gestern viel Alkohol getrunken?«, ist ihre indiskrete Frage. Eher nicht, ein Bier, einen Mojito, dazu gab es das fettigste Holzfällersteak, das ich je gegessen habe. Ich war in einer Kneipe, Public Viewing, Portugal gegen Spanien im Halbfinale der Fußball-EM. Dabei erzählte ich einer Freundin stolz, dass ich nun so viel Sport mache wie noch nie. Mit einigem Erfolg, dachte ich zumindest: An den Geräten im Kraftraum lege ich etwa die Hälfte mehr Gewicht auf als noch im Januar, fast 350 Pfund in der Beinpresse sind kein Problem, zehn Kilometer laufe ich in unter 50 Minuten.
Ob ich wegen des Abendessens heute nicht so richtig in Schwung bin? Oder weil ich ein Morgenmuffel bin und es 7.30 Uhr ist? Eine bislang nicht erkannte Sportärztinnenphobie? Verzweifelt suche ich nach einem Grund, warum ich trotz monatelangen Trainings so eine schwache Vorstellung abliefere.
Im Übungsraum höre ich Gusseisenplatten aufeinanderkrachen, und die Sportärztin sagt, ich solle mal anfangen, mich wirklich anzustrengen. »Legen Sie mehr Gewicht auf, so viel, dass Sie nach etwa 70 Sekunden keine weitere Bewegung mehr schaffen.« Sie empfiehlt, nun dreimal die Woche herzukommen, und schreibt neue Übungen für Oberschenkel und Adduktoren und Klimmzüge auf mein Trainingsprogramm. Die Kürzel der Geräte hackt sie in ihren Computer, A
2, B1, B7, J2, J3 und G1, das sind meine zusätzlichen Folterinstrumente für die nächsten Wochen. »Da haben Sie sich ja ganz schön was vorgenommen«, sagt sie.
14. Februar 1912
Zürich
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Brief von Adolf Fick an Alfred de Quervain:
Zürich, 14. Hornung 12
Sehr geehrter Herr Doktor!
Heute habe ich meinen Sohn Roderich u. Herrn Karl Gaule untersucht und bei beiden Herren an Herz, Lungen und Leistenkanal nichts Abnormes gefunden.
Hochachtungsvoll
Dr. A. Fick
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2. Juli 2012
Zürich
Wenn man zur Abteilung »Archive und Nachlässe« der ETH-Bibliothek in Zürich will, muss man im vierten Stock eines Atriums zunächst an ein paar Rechercheplätzen vorbei. Klug aussehende Studenten sitzen an ihren Laptops zwischen hohen Bücherstapeln und arbeiten. Hinter ihnen hängen einige Schautafeln mit Fotos wichtiger Forschungsreisen. Neuseeland 1902. Iran 1950. Argentinien 1897. Und Grönland 19
12. De Quervain mit Schweizer Fahne, Opa mit Segelschlitten, Hunde auf dem Inlandeis: Gleich zur Begrüßung blicken mir von der Wand ihre bekannten Gesichter entgegen.
Im nächsten Raum steht ein riesiger Globus aus dem 17. Jahrhundert, Grönland ist darauf viel zu klein eingezeichnet, man wusste es damals noch nicht besser. Eine Bibliotheksmitarbeiterin führt mich an einen Tisch, dann fährt sie zwei Wagen voller
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