Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
befinden sich auch jede Menge Fotos darin. Ein Bild fällt mir besonders auf, es zeigt meinen Opa in Angmagssalik. An einen Stein gelehnt, sitzt er da, mit einem Gewehr über den Knien, und blickt den Betrachter verwegen an. Sympathisch wirkt das nicht, eher rabiat. Er sieht ungefähr zehn Jahre älter aus als auf den Bildern vor der Abreise.
Ich entdecke das Protokoll einer Sitzung der »Neuen Zürcher Zeitung«: »Das Verwaltungskomitee der N.Z.Z. hat am 11. ds. beschlossen, an die schweiz. Grönland-Expedition des Jahres 1912 eine Subvention von 10 00
0 Fr. zu verabfolgen.« Bedingung war laut dem Dokument vom 18. Dezember 1911, dass de Quervain sämtliche »die Expedition betreffenden Mitteilungen und Berichte an die Presse in erster Linie der N.Z.Z.« zur Verfügung stellt.
Diese Exklusivgeschichte will ich unbedingt nachlesen. Ich gehe von der Bibliothek zum Verlagshaus der »Neuen Zürcher Zeitung«. Die Zeitung verfügt über ein weltweit einmaliges digitales Archiv, das jede Ausgabe seit 1780 enthält. Ich habe kurzfristig einen Termin bekommen. Eine gläserne Schiebetür öffnet sich zum Empfang. Ich werde in ein unscheinbares Büro im dritten Stock geführt, in dem ein paar Computer stehen. Ein eher schlichtes Umfeld für die sensationelle Datenmenge, auf die man hier Zugriff hat. »USB-Stick haben Sie dabei?«, fragt der Mitarbeiter. Dann lässt er mich allein. Der Suchbegriff »Alfred de Quervain« ergibt 28 Treffer. Der erste Expeditionsbericht von der Westgruppe erschien am
23. September 1912, der erste von de Quervain selbst am 24. November, zwei Monate nach seiner Rückkehr aus Grönland.
Ich bin ein wenig neidisch auf diese Zeitspanne, denn vor ein paar Tagen habe ich meinem Arbeitgeber angeboten, ein Blog über meine Grönland-Expedition zu schreiben. Der Chefredakteur war begeistert und schlug einen täglichen Live-Bericht vor. Ich konnte zum Glück heraushandeln, dass ich wegen der zu erwartenden Anstrengungen nur jeden zweiten Tag etwas schicke. Per Satellitentelefon werde ich Texte und Bilder senden, mit wenigen Stunden Verzögerung werden sie veröffentlicht.
In der »Neuen Zürcher Zeitung« erschienen die Berichte in loser Folge, der letzte am 4. April 1913. Ich speichere die Berichte als pdf-Dokumente, um sie später zu lesen, und mache noch einen Spaziergang in die Schmelzbergstraße. Die führt direkt vom ETH-Hauptgebäude den Hang des Zürichbergs hinauf, vorbei an der Sternwarte und dem Uni-Klinikum.
Dass ich Nummer 34 gefunden habe, ist mir klar, bevor ich die Hausnummer lesen kann. Ein mit Efeu bewachsener Altbau zwischen hohen Kastanien, drei Stockwerke, braune Fensterläden aus Holz. Im verwilderten Garten steht eine Scheune, die ein paar Farbeimer und ein Motorrad beherbergt. Die Fenster sehen fast genauso aus wie in Opas Haus in Herrsching. Offensichtlich hat der Züricher Wohnsitz seiner Familie, das »Schmelzbergparadies«, wie es der Vater nannte, noch viele Jahre später Roderichs Architektur inspiriert. Er wohnte als Student unter dem Dach, in einem Zimmer mit tollem Blick auf die Stadt. In einer Werkstatt in diesem Garten zimmerte er die Expeditionsausrüstung zusammen, hier packte er seine Koffer für die Abreise nach Grönland.
Naegeli und Zarius heißen jetzt die Bewohner, die beiden Klingelknöpfe an der Tür lösen ein dumpfes Scheppern aus, kein Klingeln, sondern eher ein Geräusch, als würde man Kieselsteine in ein Trinkglas werfen. Aus dem Garten beobachtet mich argwöhnisch eine Katze, ansonsten ist leider niemand zu Hause. Ich schleiche noch einmal ums Haus, fühle mich wie ein Einbrecher. Zur Stadtseite hin steht ein Verhau mit Brennholz. Dank der hohen Bäume fühlt man sich wie auf dem Land, angenehm abgeschirmt von der Umgebung. Und trotzdem ist man in wenigen Minuten an der Uni und in der Stadt. Trotz unübersehbarer Spuren des Verfalls: Der Schmelzberg 34 ist auch heute noch ein bisschen Paradies mitten in Zürich.
März 1912
Zürich, Zusatzheft zum Tagebuch von Roderich Fick
In der 2ten Hälfte März 1912 kam der Tag der Abreise. Der Abschied fiel mir weniger leicht als ich es nach aussen erscheinen liess. Ich tat so, als ob es nichts anderes wäre, als ob’s ein halbes Jahr ins Heer gienge, damit sie zu Haus weniger Angst hätten. Etwas Angst oder doch Sorgen hatte ich selbst, denn ich hielt das Unternehmen für sehr gewagt.
Der Vater begleitete mich zur Bahn. Karl Gaule hatte seine ganze Familie am Bahnhof. Als der Zug sich in Bewegung setzte
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