Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
seine Grönlandreise 1912«.
Sofort schreibe ich an Gillian Grün, eine der Veranstalterinnen, was es denn damit auf sich habe. Sie schickt mir einen Link, unter dem das Video online zu sehen ist.
»Leider nicht wirklich Ausschnitte der Expedition selbst, sondern mehr aus der Zeit der Anreise«, schreibt Grün. »Könnte für Sie aber trotzdem besonders interessant sein.« Da hat sie recht. Das Zeitdokument ist 4 Minuten und 42 Sekunden lang, wie die Leiste unter dem Bild anzeigt. Ziemlich wacklige Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die Qualität ist nicht besonders, eine Tonspur gibt es nicht.
Zunächst sind ein paar Szenen von der Abreise im Hafen von Kopenhagen zu sehen, am Ufer winken Männer in langen Mänteln mit ihren Hüten der »Hans Egede« nach. Vorne auf dem Kopfsteinpflaster des Piers fällt eine Frau in hellem Kapuzenmantel auf, die besonders ausdrucksstark mit einem weißen Taschentuch wedelt und etwas zu rufen scheint. De Quervain erwähnt in seinem Buch, dass seine Frau am Ufer gestanden habe, erst vor wenigen Monaten hatte er geheiratet. Das muss sie sein.
Die Überfahrt: Wellen neben der Reling, schäumende Gischt. Vorne am Bug werkeln ein paar Männer an der Expeditionsausrüstung herum, zurren schützende Planen fest.
Dann sehe ich Opa. Zum ersten Mal in Bewegung. Mit seiner hohen Schirmmütze steht er mitten in der Expeditionsgruppe, eine gestellte Szene, alle wirken ein wenig unbeholfen und albern herum wie Jugendliche. Wie man das eben so macht, wenn man zum ersten Mal vor einer Filmkamera steht. Wer auch immer die Kamera bedient hat, ich stelle mir vor, dass er gerade so etwas gesagt hat wie »Macht doch mal was, ich brauche Bewegung«.
Und los geht’s: De Quervain spielt mit seinem Windmesser herum, Hoessly klappt seine Uhr auf und zu, Gaule steigt auf eine Stufe und blickt durch den Feldstecher in die Ferne, Mercanton kramt eine Flöte aus seiner Innentasche und spielt ein Stück. Nur Roderich hat kein Gimmick zur Hand. Stattdessen wirken seine Bewegungen besonders fahrig, er scheint nicht so recht zu wissen, wohin mit seinen langen Armen, lächelt immer mal wieder nervös, wackelt von einem Fuß auf den anderen. So ähnlich komme ich auf Filmaufnahmen auch immer rüber, jetzt weiß ich endlich, von wem ich das habe.
Roderich wechselt ein paar Worte mit de Quervain, sicher Belanglosigkeiten, trotzdem würde ich jetzt so gerne von den Lippen ablesen können. Jedenfalls scheinen die beiden sich auf der Hinfahrt noch gut zu verstehen.
Es folgen die möglicherweise ersten Filmaufnahmen der grönländischen Westküste. Die mächtige Eiswand des Gletschers Ekip Sermia zieht vorbei, spiegelt sich im Wasser, im Vordergrund schwimmen Eisberge.
Die nächsten Bilder zeigen Trainingseinheiten, in denen die Gruppe von den Inuit lernt, wie man sich hier am besten fortbewegt. Eine Gruppe Kajakmänner rast in Formation durch den Fjord, an einem Felsen sieht man meinen Opa, wie er mit einer geschickten Bewegung aussteigt und sein weißes Boot, das er in Zürich gebaut hat, auf die vereiste Anhöhe zieht. Beinahe Slapstick-Charakter haben die Szenen vom Hundeschlittenfahrkurs. Mehrmals fahren die Gespanne durchs Bild, die Fahrer rennen hinterher und halten sich am Heck fest, einer wird so stark mitgerissen, dass er fast stürzt. Die Hunde laufen mit erhobenem Schweif kreuz und quer vor den Schlitten her, das Tempo scheinen sie zu bestimmen und nicht die Zweibeiner.
Ich spule immer wieder zu der Stelle auf der »Hans Egede« zurück, wo die Gruppe ihre Faxen macht. Und denke an alle Fotos, die ich sonst von Opa kenne. Etwas ist hier anders, endlich komme ich darauf, was: So fröhlich wie auf der Fahrt zu seinem großen Abenteuer habe ich ihn noch nie gesehen.
23. Juni 2012
Ötztal, Österreich
Um ein Haar wäre es mit unserem großen Abenteuer vorbei gewesen, als Wilfried auf einem Schneefeld am Hang abrutscht. Keine besonders kritische Stelle, eine ganz normale Alpenwandertour, wir sind auf etwa 2700 Meter Höhe in der Nähe der Braunschweiger Hütte. Er schlittert nach unten, wird immer schneller. Gregor brüllt noch »Auf den Bauch drehen!«, und kurz vor einem Überhang bleibt er endlich im Geröll liegen. Nur zwei Meter weiter geht es steil in die Tiefe, ohne Knochenbruch wäre er bei einem Sturz nicht davongekommen. Er hat Glück, nur seine beiden Unterarme sind aufgeschürft, und die Hüfte ist geprellt.
Inzwischen steht fest, wir werden zu viert sein in Grönland: Wilfried, Gregor, Jan und ich.
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